Das große Los
gezwungen.
»Ich hab’ gemeint, Ihre Frau hätte Ihnen verboten, raufzugehen, solange sich die Künstlerinnen umziehen.«
Im Grunde war er ein alter Mann, ein müder, gequälter Mann.
»Ich wollte hören, ob sie nochmal kommt.«
»Das sehen wir doch morgen.«
Hatte er wirklich ihretwegen Angst gehabt? Er ging langsam zur Tür, wie jemand, der über etwas grübelt.
»Auf alle Fälle bestelle ich ihr ein Taxi.«
»Weil nicht genug Bullen zu ihrem Schutz da sind?«
Dabei konnte Lili ihre Kollegin, die sich unbeobachtet glaubte, im Spiegel sehen und war sicher, daß Natascha Louis einen wütenden Blick zugeworfen hatte.
Ein Handgriff, um ihr rotes Hütchen aufzusetzen, und sie war fertig und sagte leichthin:
»Mein Kleid laß’ ich hier. Wenn ich morgen nicht komme, bedeutet das, daß …«
»Mach keine Witze mit so was!« knurrte die Tänzerin.
3
Die Tür des Taxis schlug sie Lapointe, der mit einsteigen wollte, vor der Nase zu, hätte fast laut herausgelacht über sein Schafsgesicht, um aber Louis zu täuschen, der gerade die Läden vorlegte, fauchte sie ihn an:
»Wenn Sie was von mir wollen, zitieren Sie mich gefälligst zum Quai des Orfèvres.«
Ein Wagen, der ein Stück die Straße hinauf geparkt war, begann dem Taxi zu folgen, und es war eines der schwarzlackierten Zivilfahrzeuge der Kriminalpolizei. Lapointe hatte Vorsorge getroffen, sie um jeden Preis zu beschützen, und es tat ihr gut. Sie nannte dem Fahrer die Adresse am Quai de la Tournelle.
Hatte sie ein bißchen Angst, als sie das leere Treppenhaus hinaufstieg? Sobald die Wohnungstür hinter ihr zu war, blieb sie reglos stehen und lauschte, und ein paar Augenblicke später schlich leise ein Mann die Treppe herunter, bestimmt noch so ein Kriminalinspektor, den Lapointe im Haus postiert hatte, damit sie sich nicht in Luft auflöste wie Lucy Perrin. Sicher würde er sich gleich auf einer der Treppenstufen niederlassen, bis das morgendliche Kommen und Gehen der Mieter ihn zwang, woanders Posten zu fassen.
»Steh auf, mein Schatz, und mach dich auf in dein eigenes Bett!« murmelte sie und rüttelte die arme Juliette wach, die unter der Bettdecke ganz warm war.
Fünf Minuten später schlief sie tief und fest, und es kam ihr so vor, als sei es unmittelbar danach gewesen, daß ihr der Wecker in die Ohren schrillte.
Sie brühte den Kaffee und brachte ihn Justin Duclos. Madame Arnaud, die Concierge, kam wie jeden Tag helfen, und die Zeit verging rasch, bis die magere Frau um zehn Uhr fragte:
»Brauchen Sie mich noch, Mademoiselle Lili?«
Justin Duclos an seinem Fenster nahm den täglichen Gruß des Bouquinisten entgegen.
»Ich geh’ einholen!« verkündete sie und griff nach ihrem roten Hütchen.
Er versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Vielleicht hatte er keine Ahnung? Sie hatte keine zehn Schritte nach draußen getan, als sich ihr ein Mann anschloß, und ohne sich umzublicken, wußte sie, es war der kleine Lapointe.
»Und jetzt?« fragte er.
»Sie werden mich wohl nicht mal allein lassen, wenn ich drum bitte?«
»Dazu bin ich fest entschlossen.«
»Dann kommen Sie halt mit!«
Sie hielt ein Taxi an und nannte die Adresse von Lucy Perrin am Boulevard des Batignolles. Paris glänzte nach dem Regen gestern nacht vor Sauberkeit, und die kleinen Karren auf den Trottoirs quollen über von Blumen.
Sobald sie aus dem Taxi ausgestiegen war, trat sie in eine Bar, in der es nach verschüttetem Weißwein roch.
»Sie können mir einen Kaffee spendieren«, forderte sie Lapointe auf.
Sie blätterte im Telefonbuch und stellte fest, daß die Perrins nicht darin standen.
»Würde es Ihnen was ausmachen, hier ein paar Minuten auf mich zu warten?«
»Sie wollen wohl was rausfinden, was die Polizei übersehen hat?«
Sie antwortete schlicht:
»Ja.«
Die Concierge war damit beschäftigt, den Vorplatz zu scheuern.
»Ist Madame Perrin zu Hause?«
»Ich hab’ sie noch nicht rausgehen sehen.«
»Lucy ist wohl noch nicht heimgekommen?«
Sie weckte keinerlei Verdacht. Sie konnte eine Freundin sein, in ihrem schlichten blauen Kostüm, das Juliette ihr genäht hatte, mit der hellen Weste und dem roten Klecks ihres Hütchens.
»Wenn man mit Madame Perrin telefonieren will, muß man wohl bei Ihnen hier in der Loge anrufen?«
»Es ist unpraktisch, sie die fünf Stockwerke runterkommen zu lassen. Die alte Madame Roy im selben Stockwerk hat Telefon und …«
Als nächstes klingelte sie an der Tür von Madame Roy, und die Alte machte ihr auf, mit einem
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