Das Habitat: Roman (German Edition)
mittlerweile klar geworden sein, dass wir in einer Welt leben, in der nichts so ist, wie es zu sein scheint. Und einen großen Teil ihrer Macht und ihrer Möglichkeiten wendet die Kirche der Unverderbten Wahrheit dafür auf, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Vielleicht sogar ist dies ihre eigentliche Aufgabe. Vielleicht wurde diese Kirche nur dazu geschaffen, genau diesen Status aufrecht zu erhalten.“
„Aber ist denn die Kirche nicht viel älter? Es gibt sie doch schon seit zweitausend Jahren – nicht erst seit dem Neubeginn.“, sagte ich.
„Nicht die Kirche, wie wir sie heute kennen! Sie mag einst ein Hort der Wahrheit und echten Glaubens gewesen sein – das kann ich dir nicht beantworten, da auch ich nur die Kirche in ihrer heutigen Form kenne. Diese aber hat irgendwann die vorhandenen Strukturen unterwandert, und gut für sich zu nutzen gewusst. Die Lehren welche die Kirche heute verbreitet, haben kaum noch etwas gemein mit den Lehren früherer Zeiten. Selbst die Bibel – das heilige Buch, auf das sie sich berufen – haben sie vor langer Zeit bereits nach ihren Bedürfnissen umgeschrieben. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein altes Exemplar in Händen gehalten. Glaub mir, es unterscheidet sich erheblich von denen, welche heute in den Kirchen genutzt werden. Und selbst in diesen zu lesen, ist ausschließlich den Priestern vorbehalten, wie du wohl wissen dürftest.“
Ich nickte.
„Ich möchte noch nicht einmal bestreiten, dass es viele aufrichtige Gläubige in dieser Kirche gibt.“, sagte er weiter. „Ja, ich wage sogar zu behaupten, dass nur sehr wenige ihrer Würdenträger wirklich in die tieferen Geheimnisse eingeweiht sind. Die Bischöfe natürlich. Und wohl auch viele der Gemeindepfarrer – zumindest in zentralen Stellen des Landes. Doch haben eben gerade jene die Macht inne, und vermögen die Kirche ganz in ihrem Sinne zu lenken.“
„Und die Anderen, sie stehen an der Spitze?“, fragte ich.
„So einfach ist das glaube ich nicht...“ Ich merkte, dass ich hier an die Grenzen seines Wissens stieß. Er suchte nach Worten. „Sicher ist, die Kirche arbeitet mit ihnen zusammen. Aus welchen Gründen – das ahnen wir leider noch nicht einmal. Dies zu ergründen, ist die wohl größte Herausforderung, vor der die Gemeinschaft der Suchenden steht. Die Anderen scheinen aber, nach allem was wir wissen, außerhalb der Kirche zu stehen. Oder darüber. Das hängt ganz davon ab, wie man es betrachten will.
Nahezu alles was wir über sie wissen, haben wir aus einer ihrer abgestürzten Himmelskutschen. Sie nennen sie Copter. Wir konnten einen Teil ihrer Ausrüstung bergen, bevor weitere von ihnen auftauchten und wir verschwinden mussten. Das war vor über acht Jahren. Die Gemeinschaft selbst aber besteht natürlich schon sehr viel länger. Doch war sie vor diesem Ereignis nur eine kleine Gruppe von Verschwörern, die sich gegen die Allmacht und die Gängelung der Kirche aufgelehnt hatten.
Seither jedenfalls gelang es uns immer wieder, den einen oder anderen ihrer Trupps zu überrumpeln, wenn wir sie bei bekannt gewordenen Mutantenfunden erwarteten. Weshalb diese Funde sie derart anziehen, wissen wir nicht. Es ist ein weiteres ihrer Geheimnisse, das wir noch nicht zu lüften vermochten.
So aber konnten wir uns mit der Zeit einen ansehnlichen Vorrat ihrer Gerätschaften zulegen. Eines dieser erbeuteten Stücke hast du letzte Nacht gesehen. Die Betäubungspistole.“
Ich nickte wissend. Hatte ich doch selbst bereits einmal die Auswirkungen der kleinen Pfeile zu spüren bekommen.
„Leider aber...“, sagte er bedauernd. „ist es uns, aufgrund unserer bescheidenen Mittel, niemals gelungen, auch nur eines dieser Geräte nachzubauen. Wir waren also darauf angewiesen, uns alles was wir benötigten von den Anderen – die sich im Übrigen selbst die Bewahrer nennen – direkt zu beschaffen. Unsere eigenen Verluste jedoch waren hoch – viel zu hoch. Als sie – gemeinsam mit der Kirche – schließlich vor wenigen Jahren zum Gegenschlag ausholten, war dies beinahe das Ende der Gemeinschaft. Nur noch wenige von uns sind übrig. Doch um so wichtiger ist jeder einzelne Suchende. Ganz besonders aber Männer wie dein Vater.“
„Die Bewahrer...“ , wiederholte ich das Wort, das er so wie nebenbei hatte fallen lassen. „Was bewahren sie denn?“
Er sah mich durchdringend an.
„Uns, Liam. So zumindest hat es die im Sterben liegende Kutscherin des abgestürzten Copters damals gesagt.
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