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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dachte Fandorin, blickte hinter die Portiere und sah, dass der prächtige Salon nicht nur einen Alkoven mit einem richtigen Bett besaß, sondern auch einen Tisch, Stühle, ein Sofa und sogar einen kleinen Kochherd mit Kupferrohr!
    Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die mächtigen Percherons zogen an, und die märchenhafte Kutsche fuhr los. Unter der Decke drehten sich lautlos die Flügel eines Ventilators, der seine Energie, wie Fandorin mit geübtem Blick feststellte, aus der Drehung der Räder bezog. Eine ausgezeichnete Ingenieurlösung!
    Ja, solch eine Kutsche hatte Fandorin noch nie gesehen.
    Solch ein Fräulein übrigens auch nicht.
    Miss Callaghan fand keine Ruhe, bevor sie ihre Nase in sämtliche Schränkchen und Türchen gesteckt hatte. Hinter einer Tür entdeckte sie ein Wasserklosett, aber das machte die Perle der Prärie nicht verlegen, sondern löste nur einen weiteren Begeisterungsschrei aus: »Ein Porzellanklo! Aber wo bleibt die Kacke?«
    Gottlob fand Ashlean selbst die Antwort auf diese Frage; das Rauschen strömenden Wassers wurde übertönt von einem nochmaligen »Wow!« nebst Händeklatschen.
    Das ist kein Fräulein, dachte Fandorin. Das ist eine Wilde aus der Steppe oder ein Kind aus dem Volke. Zwar im Seidenkleid und mit goldener Uhr, aber ohne Erziehung und Anstandsbegriffe.
    Er rief sich in Erinnerung, was der Colonel ihm über die Familie Callaghan erzählt hatte.
    Der alte Cork Callaghan hatte als einfacher Cowboy angefangen und Herden von Texas nach Norden getrieben. Später hatte er sich eine eigene Ranch angeschafft. Er hatte Gold gefunden in einem Gebirgstal, das er den Indianern abkaufte und Dream Valley taufte, Traumtal. Aber die Fundstätte versiegte bald. Ein paar Jahre später wurde in der Nähe, in den Black Hills, eine reiche Ader entdeckt. Callaghan begriff, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte, und verlor jedes Interesse am Dream Valley. Seitdem glaubte er nur noch an das »gehörnte Gold«, das ihn zum reichsten Viehhändler der Gegend gemacht hatte. Der Alte hatte drei erwachsene Söhne. Der Älteste unterhielt Rinderherden in Texas, der Mittlere leitete einen Schlachthof in Chicago, und der Jüngste baute eine Konservenfabrik in Minneapolis. Die Callaghans wollten die ganze Fleischindustrie in ihrer Hand haben, von den Weiden bis zur Ladentheke.
    Was hatte der Colonel noch erzählt?
    Um sein ehrgeiziges Projekt zu verwirklichen, hatte Callaghan große Bankkredite aufgenommen, er brauchte dringend Kapitalund verlangte deshalb, wie der Colonel meinte, einen so unglublichen Betrag für das Dream Valley.
    Über Callaghans Tochter hatte der Colonel kein Wort verloren, bis er sie vor dem Hotel Majestic sah.
    Miss Ashlean schwatzte pausenlos, stellte Fragen, die sie selbst beantwortete, und ließ sich von Fandorins Wortkargheit nicht beirren.
    »Sie sind Stotterer, nicht? Wie schade! Ein so imposanter Mann! Haben Sie das von Geburt an? Bei uns wohnt ein junger Bursche, Sammy, den Nachnamen hab ich vergessen, der hat angefangen zu stottern, als ein Mustang ihn mit dem Huf traf. Auch ein Mädchen im Pensionat stotterte, aber daran bin ich schuld. Ich hab mich bei Nacht in ein Laken gewickelt und in einen Kupferkrug gerufen: huhuuu! Suzy Shorthill, diese dumme Gans, ist da so erschrocken, dass sie nur noch bäh-bäh sagen konnte. Zum Totlachen! Ihr Alter wollte meinen Daddy bei Gericht anzeigen. Mr. Fendorin, haben Sie schon mal im Gefängnis gesessen?«
    Was wäre diese Ashlean Callaghan nach russischen Begriffen?, überlegte Fandorin, indes er höflich nickte. Die Tochter eines schnell reich gewordenen Kaufmanns, eines sibirischen Bauern, der mit Pelzwerk oder chinesischem Tee eine Million zusammengerafft hat. Einiges hat sie irgendwo gelernt – ein bisschen Klavier klimpern, ein bisschen Französisch, aber bei ihr zu Hause herrschen Wildheit und urtümliche Sitten. Aus solchen neureichen Töchtern werden erstklassige Abenteurerinnen und Herzensbrecherinnen, denn sie kennen keine psychologischen Tabus und haben erst recht keine Herzensbildung, nur einen scharfen Instinkt und eine Gier auf neue Eindrücke. Wenn solch eine Perle sich aufmacht, um Moskau oder Petersburg mit einem Sack voll väterlichem Geld zu erobern, und wenn sie obendrein schön ist, erzeugt sie um sich herum ein babylonisches Durcheinander.
    Binnen einer guten halben Stunde hatte Miss Callaghan ihremReisebegleiter ihr ganzes zwanzigjähriges Leben erzählt: von Pferden und Rindern, von der eindrucksvollsten

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