Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
durcheinandergewirbelt. Ein Stuhl hing im zersplitterten Fenster. Überall lagen Scherben.
Fassungslos sah sich Valerie um. Als sie den Blick nach oben in den freien Himmel warf, konnte sie kaum glauben, was für ein Bild sich ihr dort bot. Die Wolken waren wie weggeblasen, und die Sonne schien, als wollte sie sagen, dass sie alles nur geträumt hätten. Auf der Tischplatte entdeckte Valerie eine Lampe, die mit voller Wucht von der Decke gekracht war und das Holz an seiner Oberfläche zum Splittern gebracht hatte. Allein von diesem Geschoss hätten sie allesamt tödlich getroffen werden können.
»Wir hatten einen Schutzengel«, raunte Valerie mit ungläubigem Erstaunen.
»O weh, es steht ja gar nichts mehr«, bemerkte Rosa fassungslos.
Nur Cecily gab keinen Laut von sich. Sie rührte sich auch nicht. Erschrocken beugte sich Valerie zu ihrer Freundin, doch sie regte sich nicht.
»Cecily, wach auf!«, flehte sie vergeblich. Als Gerald klar wurde, dass Cecily ohnmächtig war, zog er sie vorsichtig unter dem Tisch hervor, hob sie hoch und legte sie auf das Sofa, das den Hurrikan als einziges Möbelstück unbeschadet überstanden hatte.
»Es muss sie etwas am Kopf getroffen haben.« Gerald deutete auf Cecilys von Blut verkrustetes Haar. »Wach auf, mein Engel, wach auf!«, flüsterte er, während er ihr über die bleichen Wangen strich.
Ein Seitenblick auf Rosa bewies ihr, was sie schon längst ahnte: Sie liebte Gerald nicht … Valerie zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Es gab weitaus Wichtigeres zu tun.
»Ich hole Ethan«, verkündete sie entschieden.
»Er ist bei Papa Jo. Dem ging es nicht gut«, raunte ihr Rosa zu.
Valerie fragte nicht, woher die Mulattin das wusste, sondern rannte los.
»Nehmen Sie doch das Pferd«, brüllte Gerald ihr nach, aber die kurze Strecke wollte sie laufen. Sie brauchte das jetzt. Musste körperlich an ihre Grenzen gehen, damit sie nicht zum Grübeln kam.
Wohin sie auch einen flüchtigen Blick warf, überall bot sich ihr das gleiche Bild der Verwüstung. Der Sturm hatte die Zuckerrohrpflanzen umgeknickt. Noch ahnte Valerie nicht, dass damit die gesamte neue Ernte, die im kommenden Februar für die jährliche Lieferung des Hensen-Rums ins ferne Flensburg benötigt wurde, zerstört war.
In ihrem Kopf hämmerte ein einziger Gedanke: Rosa war schwanger von Ethan, und diese Tatsache sollte nun offenbar vor ihr vertuscht werden! Ich muss Ruhe bewahren, ermahnte sich Valerie. Ich darf keine vorschnellen Urteile fällen! Doch sie konnte nichts dagegen tun. Aus heiterem Himmel überkam sie eine schreckliche Übelkeit, und in demselben Moment wurde ihr auch schon schummrig zumute. Sie hielt an und kam ins Schwanken. Die zerstörten Zuckerrohrfelder verschwammen vor ihren Augen und verschwanden schließlich in einem Nebelfeld. Nicht!, dachte sie verzweifelt. Nicht hier! Doch da sackte sie bereits in sich zusammen und blieb reglos auf dem Weg liegen.
16
Frederiksted, Saint Croix, Februar 1832
M eine Rolle als junger Mann hatte ich sehr genossen und nach dem ersten Sturm noch so manch brenzlige Situation an Bord erfolgreich überstanden. Ein paarmal war ich in Gefahr gelaufen, entdeckt zu werden, aber es war immer gut gegangen. Nicht zuletzt dank der Protektion durch Heinrich und Ole, den Koch. Der war wie ein Vater zu mir, passte auf, dass ich auch genug aß und wischte mir den Schweiß von der Stirn, wenn ich nach dem Genuss von zu viel Rum am nächsten Tag daniederlag. Das ließ sich an Bord nicht vermeiden. Es wäre aufgefallen, wenn ich mich nicht an den kleinen Saufereien beteiligt hätte. Und um ehrlich zu sein, war es kein unangenehmes Gefühl, wenn es erst im Bauch kribbelte und mir das Leben nach ein paar Schlucken plötzlich sorgenfrei erschien. Wenn da nur nicht der Katzenjammer am folgenden Morgen gewesen wäre … Offiziell fungierte ich als sein Maat, und Ole ließ mich auch anfänglich nur Kartoffeln schälen und abwaschen. Doch als er unterwegs Fieber bekam, habe ich gekocht. Und Ole ist dafür so gelobt worden, dass wir nach seiner Genesung die Rollen getauscht haben. Dabei hatte ich vorher noch nie gekocht, aber ich schien ein Naturtalent zu sein. Jedenfalls für eine Schiffsküche.
Als ihr Kapitän sein Schiff an diesem schönen Morgen in den Hafen von Frederiksted manövrierte, statt nach Christiansted, wunderte sich die Besatzung der Hanne von Flensburg.
»Was willst du denn in diesem Kaff, Heinrich?«, rief einer der Seemänner.
»Hier werden gelbe
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