Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Oberteil war wie ein Mieder gearbeitet, und der Rock hatte hinten eine Schleppe aus demselben Stoff. Valerie liebte die schlichte Eleganz. Auf Verzierungen aus Brokat oder Rüschen verzichtete sie lieber.
Sie drehte sich in dem neuen Kleid vor dem Spiegel und zwinkerte sich zufrieden zu. Die Verkäuferin hatte nicht übertrieben. Es passte hervorragend zu ihrer samtigen Haut und ihrem schwarzen Haar, das sie nun mit Hilfe von Haarnadeln geschickt hochsteckte.
Wenn sie so in den Spiegel sah, musste sie feststellen, dass sie ganz und gar europäisch aussah. Sie hatte Großmutters feine Nase, ihren herzförmigen Mund, die mandelförmigen blauen Augen sowie deren schlanke Statur geerbt. Wenn man nicht wusste, dass meine samtige Haut und mein dickes schwarzes Haar andere Ursachen haben als die Veranlagung einer Weißen, ein dunkler Typ zu sein – ein Fremder würde darüber nicht ins Grübeln kommen, ging es Valerie durch den Kopf, während sie sich ihren zum Kleid passenden Beutel schnappte und das Zimmer verließ. Auf der Treppe blieb sie noch einmal stehen und holte tief Luft. Ihr war plötzlich bewusst geworden, dass sie gleich James treffen würde und auch seine Verlobte. Was würde die wohl sagen, wenn sie einander begegneten? Ob sie sie überhaupt wiedererkennen würde? Die Antwort gab sie sich selbst: Mit Sicherheit! Diese Frau besaß ein gutes Gedächtnis und würde sich an die fremde Frau erinnern, die am Kai nach dem Haus der Fullers gefragt hatte. Es würde nicht einfach werden, James von ihr loszueisen, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen.
Festen Schrittes eilte sie weiter. Was nützten ihr diese Grübeleien? Sie hatte geschäftliche Ziele zu verfolgen. Und da musste sie einen kühlen Kopf bewahren. Emotionale Bedenken waren völlig fehl am Platz. Sie musste an ihre Großmutter denken. Was hatte die alles durchstehen müssen …
Cecily stand bereits im Salon und stürzte gerade ein Glas Champagner hinunter, als Valerie eintrat. Mit finsterer Miene wandte sie sich ihrer Freundin zu. Ganz offensichtlich trug sie ihr nach, was sich soeben zwischen ihnen ereignet hatte. Valerie stieß einen Seufzer aus, während sie einen Schritt auf Cecily zumachte und ihr versöhnlich die Hand auf die Schulter legte. »Sei mir wieder gut. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich wollte dich nur davor schützen …«
»Schon verstanden. Du wolltest nicht, dass sich die fette Kuh lächerlich macht. Aber warte nur ab! Sobald ich sein Kind rausgepresst habe, werde ich wieder meine alte Figur bekommen und dann …«
»Bitte, Cecily, hör auf, dich zu quälen! Wichtig ist erst einmal, dass du ein gesundes Kind zur Welt bringst«, unterbrach Valerie die Freundin heftig.
»Behandle mich nicht wie ein krankes Pferd!«, schnaubte Cecily und schüttelte den Arm der Freundin ab, der immer noch freundschaftlich auf ihrer Schulter ruhte.
»Cecily, Liebe, nun lass gut sein«, bat Valerie in flehendem Ton. Eine beleidigte Freundin war das Letzte, was sie heute Abend gebrauchen konnte. Wahrscheinlich hätte sie gar nicht auf die Sache mit Gerald eingehen und Cecily ihre Illusionen lassen sollen.
Cecily stierte jedoch weiter grimmig vor sich hin und stürzte noch ein Glas Champagner in einem Zug hinunter.
Eigentlich müsste ich ihr ordentlich die Meinung sagen und die volle Wahrheit unverblümt ins Gesicht schleudern, damit sie endlich aufwacht, dachte Valerie, doch sie ahnte, dass ihr das nur Ärger bringen würde, und einen Wutausbruch ihrer Freundin vor den Gästen zu riskieren, dazu fehlte ihr der Mut.
Außerdem kündigte der schwarze Butler Amos die Ankunft von Henry Morton an. Valerie war sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen.
Der Plantagenbesitzer Mister Morton war ein mittelgroßer Mann mit schütterem blonden Haar und einem üppigen Vollbart. Er hatte etwas von einer gutmütigen Robbe. Bewundernd musterte er Valerie. »Sie müssen die legendäre Misses Brown sein«, sagte er und machte eine höfliche Verbeugung.
»Und Sie sind sicherlich Mister Morton«, säuselte Valerie und war sich vom ersten Augenblick so gut wie sicher, dass dieser Mann ihr bestimmt gern aus der Not half, auch wenn er sie nicht gleich als Ehefrau dazubekam.
»Champagner, Henry?«, fragte Cecily. Sie hatte sich zu einem Lächeln durchgerungen. Valerie erkannte an ihrer verkrampften Körperhaltung, dass es unter ihrer freundlichen Oberfläche immer noch mächtig brodelte. Und sie merkte es daran, dass sie Valerie kein Glas anbot. Dafür nahm
Weitere Kostenlose Bücher