Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
knallrot an, denn ich hatte mich niemals für die Geschäfte meines Vaters interessiert. Verlegen fixierte ich die Spitzen meiner Schuhe. Dabei hätte ich es mir auch so denken können. Schließlich fuhr mein Schwager als Kapitän auf dieser Route und war stets während der Sommermonate zu Hause. Wie naiv bin ich bloß an die ganze Sache herangegangen?, dachte ich beschämt. Hatte ich mir wirklich eingebildet, im Hafen würde ein Schiff nur darauf warten, mir, der Tochter des stadtbekannten Reeders Carl Asmussen, zur Flucht nach Saint Croix zu verhelfen? Aber war auch Hauke so einfältig wie ich an die Sache herangegangen, oder hatte er mir von Anfang an etwas vorgemacht und gewusst, dass die gemeinsame Flucht nicht mehr als eine Kleinmädchenphantasie gewesen war?
Als ich aufsah, ruhte Pit Hensens prüfender Blick auf mir.
»Was beschäftigt Sie an der ganzen Sache eigentlich am meisten?«, fragte er. Ich zuckte zusammen. Ob er ahnte, wo ich in meinen Gedanken war?
»Warum fragen Sie?«, herrschte ich Pit Hensen an.
»Ich frage mich, warum Sie keine Träne vergießen angesichts der Tatsache, dass Ihr Geliebter sich aus dem Staub gemacht hat.«
»Das geht Sie gar nichts an!«, fauchte ich, und ehe ich es michs versah, wurden meine Augen feucht. Aber nicht aus Trauer, sondern vor Zorn. Wie stand ich vor dem überheblichen Hensen da? Verlassen, verhöhnt und belogen! Das traf mich so heftig, dass ich laut aufschluchzte. Und während ich vor Wut vibrierte, wurde mir klar, dass es wirklich merkwürdig war. Warum weinte ich nicht aus Kummer? Schließlich war der Mann, wegen dem ich noch bis gestern auf einer rosaroten Wolke geschwebt war, unter fadenscheinigen Gründen verschwunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich ihn niemals wiedersehen. Wieso heulte ich mir nicht deswegen die Augen aus dem Kopf?
Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz: Meine Gefühle für Hauke Jessen waren wie ausgelöscht. Ich empfand nichts mehr für ihn außer grenzenloser Verachtung. Selbst wenn jemand nachgeholfen hatte, was war er denn für ein Schwächling, dass er das mit sich machen ließ. Ich hatte einen Helden in ihm sehen wollen, aber von diesem Bild war nichts mehr übrig. Er hatte sich feige davongemacht. Dafür gab es keine Entschuldigung! Es sei denn … mir wurde allein bei dem Gedanken flau … das durfte ich nicht einmal denken … das war absurd!
»Haben Sie ihn umgebracht?«, hörte ich mich da bereits lauernd fragen.
Pit Hensens Antwort war ein lautes Lachen.
»Sie sind entzückend, und ich würde viel darum geben, Sie zur Frau zu bekommen, aber so viel, dass ich für Sie morden würde, bedeuten Sie mir dann doch nicht. Einmal davon abgesehen, dass mir nichts auf der Welt so teuer wäre, dass ich jemand umbrächte, um es an mich zu bringen. Liebes Fräulein Asmussen, Sie haben eine blühende Phantasie!«
Ich bedauerte es selbst am meisten, diese unsinnige Verdächtigung ausgesprochen zu haben, konnte mich aber dennoch kaum beherrschen, ihm nicht sein überhebliches Maul zu stopfen. Keine Frage, er machte sich über mich lustig! Ja, er lachte immer noch.
»Ich finde das gar nicht lustig, dass Ihr Nebenbuhler über Nacht spurlos verschwindet«, schnaubte ich.
Pit Hensens Lachen erstarb, und er erhob sich von seinem Stuhl. Dabei suchte er meinen Blick. Dann kam er langsam auf mich zu. Ich wollte weglaufen, aber ich war wie erstarrt. Es trennte uns nicht mehr als eine Handbreit, da blieb er stehen und musterte mich mit ernster Miene. »Nein, lustig ist das beileibe nicht, dass einer meiner Mitarbeiter über Nacht spurlos verschwindet. Zumal Hauke Jessen immer zuverlässig war. Viel zuverlässiger als mein Neffe …«
»Ob der etwas weiß?«, entfuhr es mir.
»Das werden wir gleich wissen!« Pit Hensen wandte sich zur Tür, öffnete sie und rief nach Christian. Der eilte sofort herbei und stutzte, als er sah, dass ich mich immer noch im Büro seines Onkels aufhielt.
»Was weißt du über das plötzliche Verschwinden deines Freundes?«, fragte Pit Hensen seinen Neffen in scharfem Ton.
Christian setzte eine übertriebene Unschuldsmiene auf. »Hauke ist verschwunden?« In diesem Augenblick war mir sonnenklar, dass er mehr wusste, als er jemals zugeben würde.
»Ja, Hauke Jessen ist fort. Er hat seine Sachen mitgenommen, und es sieht so aus, als habe er unser Haus auf Nimmerwiedersehen verlassen!«
»Das ist aber merkwürdig!«, murmelte Christian. »Ich habe mich schon gewundert, dass er heute Morgen nicht im
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