Das Haus der Tänzerin
schlurfte zu seinem Laptop. »Ich war immer der Meinung, du hättest mehr mit deinem Leben anfangen sollen. Vielleicht hast du das wegen diesem Tom nie riskiert.«
»Mehr als was, Charles? Ich habe gearbeitet, ich habe ein Kind großgezogen. Ist dir jemals eingefallen, dass ich alles getan habe, was ich je wollte? Ich habe gelebt, Charles …«
»Und geliebt?«
»Ja, ich habe geliebt. Ich habe Tom geliebt, sehr, und auch sehr leidenschaftlich, auch wenn wir nur kurze Zeit zusammen waren.« Sie rieb sich die Augen. »Aber du musst gerade reden, du Casanova«, sagte Freya. »Du warst so in deinem unmöglichen Gerda-Traum verfangen, dass du das verpasst hast, was vor deiner Nase lag. Was auch immer du behauptest, auch du hast dein Leben verschwendet, weil du immer jemandem nachgeweint hast, Charles.«
Charles ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. »Du sprichst von Immaculada, oder?«
»Du hast deine Chance verpasst, Charles. Sie hat dich angebetet. Wenn du sie gefragt hättest, sie wäre mit dir gegangen.«
»Glaubst du, ich hätte das nicht schon tausend Mal im Kopf durchgespielt? Was wäre, wenn ich sie mitgenommen hätte? Was wäre, wenn Hugo und ich einfach abgereist wären, nachdem die Brigaden aufgelöst wurden?« Er fuhr sich durch die Haare und schaute zum Sideboard. »Ist noch Scotch da?«
»Nein. Und du weißt doch, du solltest nicht … der Arzt hat gesagt, du sollst auf deine Leber achten.«
»Frey, ich bin sechsundachtzig Jahre alt. Lass mich noch ein bisschen leben.« Er putzte seine Brille. »Sie war ein schönes Mädchen«, sagte er wehmütig. »Ich nehme an, sie hat diesen vernünftigen Jungen geheiratet, der ihr gefolgt ist wie ein Hündchen. Wie hieß er noch?«
»Ignacio.«
»Ja, Ignacio.« Charles presste die Lippen zusammen und zuckte die Schultern. »Vielleicht haben wir beide unsere Chancen verpasst. Aber es ist nicht zu spät.« Er spreizte die Finger über Freyas Laptop. »Was du heute kannst besorgen …«
»Was machst du denn?« Freya stand auf und schaute ihm über die Schulter. Charles tippte »Dr. Thomas Henderson, Kanada« in das Google-Suchfeld. Sekunden später erschien eine Adresse. »Ach, ich weiß nicht. Ich kann doch nicht …«
»Zu spät.« Charles wählte die Nummer auf dem Bildschirm und reichte ihr den Hörer.
»Guten Morgen, Praxis Dr. Henderson.«
»Ich kann das nicht, Charles …«, begann Freya. »Ah, guten Morgen. Ist das Dr. Tom Henderson?«
»Ja, guten Morgen, Ma’am. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Könnte ich mit ihm persönlich sprechen?«
»Ich stelle Sie durch. Darf ich fragen, wer anruft?«
»Freya Temple.«
»Einen Augenblick bitte.«
Freya zitterte. Charles stand auf, damit sie sich setzen konnte. Sie hörte, wie der Hörer abgehoben wurde. »Tom Henderson, guten Morgen.« Ihr Herz klopfte heftig.
»Tom? Bist du das?« Er klang so wie früher. Die Jahre fielen von ihr ab, sie erinnerte sich, wie es sich anfühlte, ihn zu umarmen, wie sich um seine Augen Fältchen bildeten, wenn er lächelte, wie sie ihn liebte.
Der Mann lachte. »Ja, ich bin es. Wer sind Sie?«
»Freya.« Vielleicht hatte er sie nach all der Zeit vergessen? »Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr … wir haben zusammen mit Beth gearbeitet.«
»Beth?« Er überlegte. »Dr. Bethune? Ah, ich verstehe. Sie wollen sicher mit meinem Vater sprechen. Tom Henderson senior?«
Freya schlug sich die Hand an den Kopf. »Natürlich.«
»Sagen Sie, sind Sie die Freya? Die, von der er immer gesprochen hat, nachdem Mom gestorben war?«
Die Freya, dachte sie. »Das hoffe ich.«
Er lachte. »Ach, das hätte ihm gefallen.«
Ihr wurde bange. »Soll das heißen, Tom ist …?«
»Dad ist leider im letzten Frühjahr gestorben.«
»Das tut mir so leid.« Freya stiegen Tränen in die Augen. »Das tut mir furchtbar leid für Sie.«
»Teufel, ja …« Er seufzte. »Dad fehlt mir jeden Tag. Aber wissen Sie, mein Sohn ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Hatte er … hatten Sie alle ein gutes Leben?«
»Das beste«, sagte er. »Nachdem Dad aus China zurückgekehrt war, das war 1942, heiratete er meine Mom. Sie bekamen sechs Kinder …«
»Sechs?« Freya lachte durch ihre Tränen hindurch.
»Sie wissen doch, wie Dad war. Er hat Kinder sehr gemocht.«
Freya dachte daran, wie er auf den Straßen von Madrid mit den Kindern gespielt und herumgealbert, ihnen Süßigkeiten geschenkt hatte. »Ich nehme an, er war ein wunderbarer Vater.«
»Mom und Dad hatten fünfzig gute Jahre
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