Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
«Es besteht gar kein Zweifel, dass du und Peter eures Vaters Kinder seid.»
«Ja, wirklich? Warum?»
«Weil ihr seine Augen und seine dunklen Locken geerbt habt.» Sie zwinkerte Ricarda zu. «Und seinen Sturkopf.»
«Oh.» Ricarda wurde puterrot. «Tut mir leid wegen heute Nachmittag.»
«Ist schon vergessen.»
«Peter kann so eine Nervensäge sein! Und seine Zeichnung war wirklich schlecht.»
«Das sagt man aber nicht», rügte Pauline sanft. «Nicht jeder Mensch ist so talentiert wie du. Bestimmt hat er sich große Mühe gegeben. Außerdem ist er jünger als du. In seinem Alter hast du auch noch nicht so gut gezeichnet wie heute.»
«Das Pferd, das er gemalt hat, sah aus wie eine Schildkröte!»
Pauline verkniff sich ein Lachen. «Du solltest ihn ermutigen, damit er mehr übt.»
Ricarda zuckte mit den Achseln. «Sie haben mir noch immer nicht gesagt, ob böse Menschen auch in den Himmel kommen. Pfarrer Dullmann aus der Schule sagt, sie kommen in die Hölle. Ist Mama dann jetzt dort?»
Pauline zögerte. «Nein, Ricarda, ich glaube nicht, dass sie in der Hölle ist. Sie war krank, weißt du? Und der liebe Gott bestraft die Menschen nicht dafür, wenn sie krank sind, nicht wahr?»
«Nein.»
«Siehst du. Gewiss hat er ihr verziehen, und da, wo sie jetzt ist, ist sie ganz fröhlich und gesund.»
«Glauben Sie?»
«Aber sicher.»
Nachdenklich blätterte das Mädchen in dem Buch auf seinem Schoß. «Bin ich böse?»
«Wie kommst du denn darauf?», fragte Pauline verblüfft.
«Weil …»
«Ja?»
«Weil ich froh bin, dass Mama tot ist.» Ricarda biss sich auf die Lippen. «Na ja, nicht froh, aber … Es ist gut, dass sie weg ist und dass Sie jetzt hier sind.» Verlegen fingerte sie am Einband des Buches herum. «Sie schimpfen nur mit uns, wenn Sie müssen. Sie bringen uns Dinge bei. Ich kann schon richtige Sätze auf Französisch sagen und viel besser singen und … Bringen Sie mir das Spielen auf dem Pianoforte bei?»
«Natürlich, wenn du das möchtest. Aber vielleicht wäre ein richtiger Musiklehrer angebracht.»
«Nein, ich möchte, dass Sie es mir beibringen», beharrte Ricarda. Dann griff sie nach Paulines Hand. «Sie gehen doch nie mehr weg, oder?»
Unvermittelt spürte Pauline einen Kloß in ihrer Kehle. Dieses Weihnachtsfest war offenbar eine Zeit der Offenbarungen. Gerührt lächelte sie dem Mädchen zu. «Nein, ich gehe nicht weg. Jedenfalls nicht, bevor du groß bist und keine Gouvernante mehr brauchst.»
«Muss ich wirklich groß werden?» Ricarda machte ein enttäuschtes Gesicht.
Pauline lachte leise. «Natürlich, mein Kind. Jeder Mensch muss erwachsen werden. Du wirst einmal eine hübsche junge Dame, der die Männer nur so zu Füßen liegen werden. Du wirst heiraten und selbst Kinder bekommen.»
«Wie geht das eigentlich?»
«Was?» Fragend blickte Pauline das Mädchen an.
Ricarda ließ ihre Hand los und rutschte ein wenig hin und her, um bequemer zu sitzen. «Na, das Kinderkriegen. Ich weiß, dass eine Frau einen ganz dicken Bauch kriegt, weil das Kind da drin ist. Das habe ich schon oft gesehen. Aber wie kommt das Kind da hinein?»
«Oh, das …» Pauline biss sich verlegen auf die Lippen. «Das ist eine Sache, über die wir reden, wenn du etwas größer bist.»
«Warum nicht jetzt? Ist das geheim?»
«Ähm … nicht direkt geheim.» Pauline wand sich. Mit einer solchen Frage hatte sie nicht gerechnet. Es schickte sich nicht, über diese Dinge zu sprechen. Andererseits wollte sie auch nicht, dass Ricarda so blauäugig blieb, wie sie selbst noch bis vor wenigen Monaten gewesen war. «Weißt du, um Kinder zu bekommen, sollte man verheiratet sein. Und wenn … wenn die Liebe zwischen den Ehepartnern besonders groß ist, dann entsteht daraus ein Kind.»
«Aber Mama hat Papa nicht geliebt und uns trotzdem bekommen.»
Gegen dieses Argument kam Pauline nicht so einfach an. Ihre Gedanken überschlugen sich. «Weißt du, manchmal äußert sich Liebe auch als Pflichterfüllung. Deine Mama hat ihre Pflicht als Ehefrau getan. Und du weißt, dass dein Vater euch sehr liebt, also war genug Liebe in ihm, um euch überhaupt erst entstehen zu lassen.»
«Glauben Sie wirklich, dass er uns liebhat?»
Erleichtert, dass Ricarda mit dieser einfachen Erklärung offenbar zufrieden war, nickte Pauline. «Aber ja, selbstverständlich liebt er euch. Er kann es nicht so gut zeigen, aber …»
«Das konnte er noch nie.» Ricarda klang mit einem Mal recht altklug. «Großmama sagt, das sei so,
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