Das Hexenkreuz
Vollblut
stand wegen dem Gewitter kurz vor dem Durchdrehen. Der Höhleneingang war hoch
genug, trotzdem war es schwierig, die nervösen Pferde hinein zu zerren. Sie
rochen den Bären und versuchten panisch, sich loszureißen. Emilia sprach unentwegt
beruhigend auf sie ein. Schon hörten sie, wie der Platzregen einsetzte und gegen
die Felsen trommelte. Nur, dass es kein Regen war, sondern der Himmel spie
taubeneiergroße Hagelkörner aus. Ohne die Höhle wären sie den Gewalten
schutzlos ausgeliefert gewesen.
Emilia
schlang die Zügel mit festem Knoten um einen gezackten Felsen und redete weiter
auf die Tiere ein. Sie fand noch einige Brocken Zucker in ihrer Tasche und
fütterte sie. Knirschend zermalmten sie mit ihren großen Zähnen den Leckerbissen.
Ihre Ohren zuckten nervös, doch sie beruhigten sich allmählich. Das Gewitter
entfernte sich genauso rasch, wie es über sie hereingebrochen war. Serafina
hatte sich in ihre Decke gerollt und schien eingeschlafen zu sein. Paridi lag
ausgestreckt dicht an ihrem Kopf, eine Tatze Besitz ergreifend auf ihrem
silberfarbenen Zopf. Er hob kurz den edlen Kopf und klopfte mit seinem Schwanz
auf den Boden, dann sank er zurück. Er für seinen Teil schien sich nicht unwohl
zu fühlen.
Emilia
setzte sich neben sie. Ihr Degen und das lange Messer des Beutelschneiders
lagen griffbereit. Es regnete die ganze restliche Nacht. Auch der Morgen
präsentierte sich von seiner schlechtesten Seite. Der Wind pfiff und peitschte
den Regen in die Höhle hinein, so dass sie gezwungen waren, ihr Lager etwas
tiefer hinein zu verlegen - leider auch näher heran an den Gestank. Es war kalt
und trostlos. Zwecklos bei diesem Wetter aufzubrechen. Zumindest konnte
Serafina die Zeit nutzen, um sich zu erholen. Erst gegen Mittag ließ der Regen
allmählich nach und der Ostwind vertrieb die letzten dunklen Wolken. Der Himmel
klärte sich auf und die Sonne blinzelte hier und da hervor. Schon war die Welt
eine andere. Sie krochen aus ihrem Versteck. Überall um sie herum dampfte die
Erde und Nebelschwaden krochen über den Boden wie herabgestiegene Wolken.
Serafina näherte sich der Kante des Plateaus. Das grandiose Panorama der
Abruzzen breitete sich vor ihren Augen aus. Die Schönheit des Landes benahm ihr
beinahe den Atem. Hinter sich hörte sie Emilias leichten Schritt. „Unsere
Heimat ist wunderschön, nicht wahr?“, flüsterte diese.
„Ja. Genauso
stelle ich mir die junge Welt am ersten Tag der Schöpfung vor.“
„Glaubst du,
dass es woanders ebenso schön sein kann wie hier?“, fragte Emilia bewegt.
„Ich weiß es
nicht. Gott kennt viele Formen der Schönheit. Außerdem, kann man Schönheit
vergleichen? Liegt nicht in ihrer Einzigartigkeit ihr Zauber? Trotzdem ist es
kaum vorstellbar, auch woanders soviel reiche Vielfalt zu entdecken wie hier.“
Unter ihnen leuchtete das blaue Band eines Flusses, der sich durch die grüne
Ebene wand. „Sieh“, Serafina deutete darauf. „Dort unten, das muss der Aterno
sein.“ Unter ihnen fiel die Felswand mehrere hundert Meter steil in die Tiefe.
Sie erschauerten nachträglich; viel hatte nicht gefehlt und sie wären gestern
direkt in ihr Verderben gelaufen.
„Was ist
das?“, rief Emilia plötzlich mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Dort auf dem
kleinen Felsvorsprung unter uns. Ist es das, was ich glaube?“
„Tatsächlich!
Da unten liegt ja unser Bär. Das also ist aus ihm geworden. Arme Bestie“,
murmelte Serafina.
„Jetzt, wo
er tot ist, fühlst du Mitleid mit ihm?“, fragte Emilia verwundert.
„Ja, warum
nicht? Er ist ein Tier, das lediglich seinen natürlichen Instinkten gefolgt
ist. Schließlich haben wir ihm den Weg in sein Zuhause versperrt. Wie würdest
du es finden, wenn du heimkehrst und sich dort plötzlich Fremde eingenistet
haben? Würdest du nicht auch versuchen, sie zu verjagen? Ebenso, wie wir
Menschen für unser Miteinander gegenseitiges Verständnis einfordern, so haben
die Tiere ein ebensolches Verständnis verdient. Wäre das nicht die natürliche
Weiterführung deiner Gedanken?“
„Du hast
Recht. Die Motive des anderen zu ergründen, scheint mir tatsächlich die Essenz
zu sein, aus der sich Verständnis und Verständigung zusammensetzen. Es hört
sich so einfach an und scheint doch so schwierig zu sein. Schade, dass man
diese Erkenntnis nicht in kleine Fläschchen einfüllen und unter den Menschen
verteilen kann“, sagte Emilia mit einem Seufzer.
Wenig später
brachen sie auf. Zuvor hatte Emilia nach Serafinas
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