Das Hochzeitsversprechen: Roman (German Edition)
Ich starre sie an.
»Und er ist in den Ferien auch nicht an der Hand operiert worden?«, stimmt Ellen mit ein. »In der Great Ormond Street?«
»Nein!« Ich blicke von einem Gesicht ins andere. »Hat er das erzählt?«
»Bitte machen Sie sich keine Sorgen«, sagt Mrs Hocking eilig. »Uns ist schon im letzten Schuljahr aufgefallen, dass Noah eine … ausgeprägte Fantasie zu haben scheint. Er kommt mit allen möglichen Geschichten an, von denen manche offensichtlich unwahr sind.«
Bestürzt starre ich sie an. »Was für andere Geschichten denn?«
»Nun.« Wieder werfen sich Mrs Hocking und Ellen Blicke zu. »Er meinte, er hätte eine Herztransplantation gehabt. Natürlich wussten wir, dass das nicht stimmt. Er sprach von einem Schwesterchen von einer Leihmutter, was wir ebenfalls nicht für bare Münze genommen haben …«
Eine Herztransplantation? Ein Schwesterchen von einer Leihmutter ? Woher hat Noah das alles überhaupt?
»Okay«, sage ich schließlich. »Da muss ich wohl mal mit ihm reden.«
»Seien Sie nicht zu streng.« Mrs Hocking lächelt. »Wie gesagt, es ist eine ganz normale Phase. Vielleicht sucht er Aufmerksamkeit, oder vielleicht ist ihm gar nicht bewusst, was er tut. So oder so gibt es sich bestimmt irgendwann von selbst.«
»Er hat sogar erzählt, Sie hätten die Sachen Ihres Mannes an die Straße gestellt und die Nachbarn aufgefordert, sich zu bedienen!«, sagt Ellen mit glockenhellem Lachen. »Er hat wirklich eine blühende Fantasie!«
Ich werde puterrot. Verdammt. Ich dachte, er hätte tief und fest geschlafen.
»Und wie!« Ich gebe mir Mühe, entspannt zu klingen, »Wer tut denn so was ?«
Als ich dort ankomme, wo der Förderunterricht stattfindet, ist mein Gesicht immer noch ganz heiß. Noah bekommt mittwochs Nachhilfe, weil seine Handschrift so entsetzlich ist. (Die offizielle Diagnose führt die Formulierung »räumliche Koordination« im Titel und kostet sechzig Pfund pro Sitzung.)
Draußen vor der Tür gibt es einen kleinen Wartebereich, und ich setze mich auf das Minisofa. Mir gegenüber steht ein Regal voller Bleistifte mit Spezialgriffen und seltsam geformten Scheren und Beanbags. Es gibt ein Bücherbord mit Titeln wie »Wie fühle ich mich heute?« An der Wand plappert leise ein Kinderprogramm im Fernseher.
Unwillkürlich denke ich, so eine Abteilung könnten wir im Büro auch brauchen. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, einmal in der Woche rauszukommen, um mit Beanbags zu spielen und auf Karteikarten zu deuten, auf denen steht: Heute bin ich traurig, weil mein Chef ein Idiot ist .
»… ich wurde in der Great Ormond Street operiert.« Eine Stimme aus dem Fernseher weckt meine Aufmerksamkeit. »Hinterher tat mir die Hand weh, und ich konnte nicht mehr schreiben.« Ich blicke auf und sehe ein kleines, asiatisch aussehendes Mädchen, das in die Kamera spricht. »Aber Marie hat mir geholfen, wieder schreiben zu lernen.« Musik erklingt, und es folgt eine Szene, in der das kleine Mädchen unter Anleitung einer Frau mit einem Bleistift kämpft. Die letzte Einstellung zeigt, wie das Mädchen vor Stolz strahlt und seine Zeichnung hochhält. Das Bild verschwimmt, und verwirrt blinzle ich den Fernseher an.
Great Ormond Street. Ist das ein Zufall?
»Meine Mama kriegt ein Baby von einer Leihmutter.« Ein sommersprossiger Junge erscheint auf dem Bildschirm, und die Musik ändert sich. »Zuerst fühlte ich mich vernachlässigt. Aber jetzt bin ich richtig aufgeregt.«
Bitte?
Ich nehme die Fernbedienung und mache lauter, während Charlie seine kleine Leihschwester vorstellt. Als Nächstes kommt Romy, der eine künstliche Hörschnecke implantiert wurde, und dann Sara, deren Mama eine Schönheitsoperation hatte und jetzt ganz anders aussieht (aber das ist okay), und schließlich kommt David mit seinem neuen Herzen.
Ich merke bald, dass die DVD keinen speziellen Zweck verfolgt. Sie ist Werbung für andere DVD s. Und sie läuft in einer Schleife. Eine inspirierte, herzzerreißende Geschichte nach der anderen.
Fast kommen mir die Tränen, während die Kinder ihre Geschichten erzählen. Aber ich koche auch vor Wut. Hat denn keiner daran gedacht, sich diese DVD mal anzusehen? Hat denn niemand Noahs Geschichten mit dem zusammengebracht, was er hier zu sehen bekommt?
»Jetzt kann ich wieder rumrennen und spielen«, sagt David fröhlich in die Kamera. »Ich kann mit Lucy spielen, meinem neuen Hund.«
Lucy ist ein Cockerspaniel. Natürlich.
Plötzlich geht die Tür auf, und Noah wird
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