Das Imperium
Aguerras den meisten anderen Leuten gegenüber im Nachteil gewesen. Seine Mutter hatte von Raymonds Intelligenz gewusst und ihm Bücher gekauft, wenn sie konnte. Jetzt war sie tot und er wollte sich so verhalten, dass sie stolz auf ihn gewesen wäre, wenn sie noch gelebt hätte.
Schmerz stach in Seele und Herz, als er an das Feuer dachte, dem seine Mutter und Brüder zum Opfer gefallen waren. Wenn er an jenem Abend nicht losgegangen wäre, um sich für ein paar Stunden Arbeit zu suchen, hätte es ihn ebenfalls erwischt. Und jetzt befand er sich hier, im Flüsterpalast – ein Sprung aus der Armut in schier unvorstellbaren Luxus.
»Ich freue mich darüber, einen so wissbegierigen Schüler zu haben«, sagte OX. »Denn ich bin angewiesen, dich viel zu lehren.«
Raymond tauchte und schwamm unter Wasser, bis er glaubte, dass ihm die Lungen platzten, kam dann wieder an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Er lachte und kehrte dorthin zurück, wo der Kompi stand. »Weißt du, OX, wenn der Unterricht häufiger in Schwimmbecken stattfände, gingen Jungen und Mädchen viel lieber zur Schule.«
Er spürte eine Vibration und am anderen Ende des Beckens spritzte Wasser aus geysirartigen Düsen. Luken öffneten sich und Raymond schwamm zum tieferen Bereich des Beckens, als drei graue, geschmeidige Körper zum Vorschein kamen. Drei große Tümmler mit glänzenden Augen huschten um ihn herum. Der Junge lachte und schwamm im Kreis, während ihm die Delphine so nahe kamen, dass er ihre gummiartige Haut berühren und nach den Rückenflossen greifen konnte, um sich ziehen zu lassen. Vor einer Woche hatte er zu OX gesagt, dass er gern einmal einen Delphin sehen würde, und als er am nächsten Tag schwimmen ging, erschienen plötzlich die Tümmler.
Raymond zweifelte nicht daran, dass man ihn rund um die Uhr überwachte. Der Vorsitzende Wenzeslas und seine zahlreichen Assistenten zeichneten bestimmt alles auf. Der Mangel an Privatsphäre ärgerte ihn, aber er konnte keine Einwände erheben. Er verdankte diesen Leuten alles. Zwar durfte er nicht nach draußen, aber er war durch den Flüsterpalast gewandert, durch Flure, Kammern, Wartungstunnel und Katakomben. Überall war es sauber und hell, selbst an jenen Orten, die kaum jemals ein Besucher zu sehen bekam, und es fehlte nie an üppigen Dekorationen und Verzierungen. Raymond wollte sich nicht beklagen – obwohl er inzwischen die Wahrheit über Frederick und seine nicht existierende königliche Familie kannte, wodurch sich seine Vorstellung davon, was einen »König« ausmachte, gründlich geändert hatte.
»Wie begann dies alles, OX? Auf der Erde gab es so viele Regierungssysteme: sich entwickelnde Demokratien, Diktaturen, Militärregime und so weiter. Ein König scheint… altmodisch zu sein. Wieso hat die Hanse das Königtum wiederhergestellt?«
OX zögerte kurz und schien eine Datei zu öffnen. Die Delphine schwammen noch immer um Raymond herum, während er versuchte, dem Kompi zuzuhören.
»Als die Terranische Hanse mit der Konsolidierung ihrer Macht begann, waren ihre Repräsentanten Unternehmensleiter und Aufsichtsratsvorsitzende. Sie trafen die Entscheidungen und kümmerten sich ums Geschäft, aber niemand von ihnen verfügte über besonderes Charisma – für Auftritte in der Öffentlichkeit eigneten sie sich nicht. Die Galionsfiguren, die schließlich zu den Großen Königen wurden, fungierten zunächst als Sprecher und Symbole dafür, dass die Hanse mehrere Mächte unter einem Oberhaupt vereinte und somit einem Königreich ähnelte.
Die Monarchie ist zwar nicht unbedingt die beste und am höchsten entwickelte Regierungsform, aber sie hat immer den besonderen Respekt der Menschen genossen. Zu Anfang machte die Hanse kein Geheimnis daraus, dass der König nur dazu diente, Zeremonien durchzuführen und die Öffentlichkeit zu beeindrucken. Viele Bürger hielten Geschäftsleute für unzuverlässig, für Helden mit tönernen Füßen, wie es so schön heißt.«
»Diesen Ausdruck höre ich zum ersten Mal«, sagte Raymond und schwamm wieder zurück. Die Delphine befanden sich unter ihm, stießen gegen seine Füße.
»Aber ein König, der gut vorbereitet und angemessen präsentiert wird, kann eine einigende, Vertrauen schaffende Wirkung erzielen. Die menschliche Bevölkerung fand sich schnell damit ab und im Lauf der Zeit wurde der Große König zu einer unentbehrlichen Symbolfigur.«
»Obwohl der König keine Macht hat«, warf Raymond ein.
»Obwohl er keine politische
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