Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
Hauptsache, das Kindchen wird getauft.«
Er kann Maria nicht länger in ihrem Stühlchen sitzen sehen. Er hebt sie heraus und drückt sie zart an sich. Jetzt hockt sie auf seinem Schoß und er pustet in ihr Flauschhaar, das lustig in die Höhe steht. Sie dreht ihren Kopf und quietscht. Er pustet wieder. Sie hebt die Ärmchen und klatscht sich selbst auf den Kopf.
»Hauptsache, der liebe Gott passt auf das Kindchen auf«, sagt er versonnen.
Ich kriege wieder eine komische Wut, wie immer bei dem Thema. Ich fühle mich irgendwie betrogen. So, als hätte ich bei einem Spiel verloren und guck mir jetzt die Sieger an. Ist das Neid? Wie er Maria anfasst. Wie er sie hält. Ich denke an das Gespräch, dass Maria getauft werden soll und über meine eigene Taufe und den Tod. Ich denke an Mellas Meinung, dass Mami vielleicht auch noch »heilig« wird, und an die Gemütlichkeit, von der Tom gesprochen hat.
»Tine ist auch getauft«, höre ich Mutter sagen. »Kurz vor Tines Geburt ist meine eigene Mutter gestorben, und mein Vater hatte dann den Wunsch, Tine taufen zu lassen. Ich hatte auch damals keine Einwände, warum sollte ich dann jetzt etwas gegen Marias Taufe haben?«
»Tine ist getauft?« Omi klingt ganz begeistert. »Das ist aber schön! Wann ist denn dein Tauftag?«
Hilfe! Ich will nicht. Was soll denn das? Mein Tauftag? Schluss!
»Das weiß ich nicht«, antwortet meine Mutter. Mir ist die Sprache weggeblieben.
»Es muss eine Urkunde geben«, sagt Opa.
»Ich habe keine Urkunde. Ich kann mich nur an eine Kerze erinnern. Die hab ich voller Wut weggeschmissen, als mein Vater auch plötzlich starb und Tine war noch nicht mal ein Jahr alt.« Meine Mutter klingt ziemlich ratlos.
»Das kannst du in dem Pfarramt erfahren, wo die Taufe stattgefunden hat.« Opa ist unverdrossen. Die Sache mit der Kerze scheint ihn nicht zu schockieren. Mich aber schon. Aber warum sollte mich das eigentlich alles interessieren? Ich koche über.
»Lasst mich endlich in Ruhe!«, schreie ich. Stille. Ich blicke sie an. Sie blicken mich an. Ich habe diese alten Menschen noch nie angeschrien. Aber ich kann nicht aufhören. »Das ist mir alles scheißegal. Ich weiß überhaupt nicht, worum es in der Kirche geht. Ich bin bis heute gut ohne ausgekommen. Kann das nicht mal reichen?« Das ist mein Versuch, mich zu erklären. Nicht gerade aussagekräftig. Mein Hals ist wie zugeschnürt.
»Ich würde dir gern was darüber erzählen«, setzt Omi an. Ich kriege gleich wieder die Wut.
»Lasst sie doch«, sagt Carsten da. »So geht das wahrscheinlich wirklich nicht.« Höre ich richtig? Er unterstützt mich! »Wenn man davon noch fast nichts gehört und nichts vermisst hat, dann muss einem unser Gerede ja wirklich vorkommen, als wollten wir jemand ein Ohr anquatschen.«
»Maria taufen wir«, sagt meine Mutter ganz ruhig. »Vielleicht beginnt damit in unserer Familie ein neuer Abschnitt oder so, wer weiß? Für Carsten und mich wäre das schön. Aber die beiden Großen sind schon selbständig. Ich will sie zu nichts zwingen.«
Ich sehe meine Mutter beruhigt an. Danke, denke ich.
Am nächsten Tag verabreden wir uns mit Omi und dem Rest der Familie zum Mittagessen in einer Gaststätte in einem Ort auf der anderen Seite vom Spitzberg. Opa und ich gehen zu Fuß dorthin, die anderen nehmen das Auto.
Es ist ganz schön weit. Unser Weg führt uns wieder auf die Höhe und den Bergrücken entlang. Wir müssen sogar richtig über den Spitzberg, der winterlich vor uns liegt. Es geht steil bergauf. Ich schnaufe. Manchmal rutsche ich und Opa hält mich geschickt fest.
Ich kenne Opa erst seit einem Jahr, aber ich mag ihn. Ich habe großes Vertrauen zu ihm. Er ist ruhig und freundlich. Beim Wandern spricht er fast nichts. Manchmal weist er mich auf etwas hin, dort eine Spur oder ein schöner Stein, hier eine Weggablung, und dann erzählt er mir, wohin der andere Weg führt. Er sagt die Himmelsrichtung an und die Höhenmeter, und auch wenn das hier kein Hochgebirge ist, spannend ist es trotzdem. Manchmal holt er eine Karte aus dem Rucksack und zeigt mir, wo wir sind. Als wir oben sind, haben wir einen sagenhaften Blick.
»Dort unten im Tal ist Omi aufgewachsen«, erklärt er mir. »Und dort hinten ist die Sächsische Schweiz. Kannst du mir den Königstein zeigen?« Kein Problem. Ich kann die Festung sogar mit bloßem Auge erkennen. »Morgen fahren wir dorthin und übermorgen gehen wir ins Labyrinth. Aber jetzt steigen wir erst einmal wieder runter und laufen zu
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