Das Jesusfragment
geschlossenen Augen ablehnte.
»Also«, sagte sie, »rückwärts schreiben bedeutet nicht, dass man geisteskrank ist. Ihr Vater sagte, er habe ein außergewöhnliches Geheimnis gelüftet. Vielleicht hat dieses Geheimnis – authentisch oder nicht – ihn in eine leicht mystische Phase geführt … Mystik ist gerade echt in Mode! Sogar die France Telecom organisiert ihre Versammlungen heutzutage in den Räumlichkeiten der Rosenkreuzer!«
»Wie entsetzlich!«
»Oder vielleicht war Ihr Vater ganz einfach ein Fan von Leonardo da Vinci. Rückwärts schreiben ist auch nicht viel verrückter als jeden Morgen die Kreuzworträtsel von Michel Laclos zu lösen. Haben Sie denn noch Zeit gehabt, seine Notizen zu lesen?«
»Kaum. Ich bin kein Profi im Rückwärtslesen!«
»Und ist Ihnen etwas dabei aufgefallen?«
»Ich habe nicht sehr viel verstanden. Aber da waren zwei Worte, die auf mehreren Seiten regelmäßig vorkamen.«
»Welche waren das?«, drängte sie mich.
»Das Erste war, wenn ich mich richtig erinnere, eine Abkürzung, I.B.I.«
Ich erkannte an ihrem Blick, dass die Abkürzung ihr etwas sagte und wartete gespannt auf ihre Erklärung.
» Ioshua Ben Ioseph «, erklärte sie, »Jesus, Sohn des Josef, wie Chouraqui wörtlich übersetzt hat.«
»Natürlich, das hätte ich selber erraten können«, stimmte ich ihr zu.
»Da das Geheimnis Ihres Vaters etwas mit dem Stein von Iorden zu tun hat, ist daran nichts erstaunlich. Und das zweite Wort?«
Der Geruch nach geschmorter Pute begann die Küche zu erfüllen.
»Da bin ich mir nicht sicher. Es könnte ein deutsches Wort sein. Bilderberger oder so etwas Ähnliches.«
»Bilderberg?«, fragte sie und runzelte die Stirn.
»Ja, das ist es!«, rief ich und wunderte mich, dass sie das Wort kannte.
»Sind Sie sicher?«, fragte sie, als ob diese Tatsache sie beunruhigte.
Ich war mir absolut sicher. Ich sah das Wort ganz genau vor mir.
»Ja, Bilderberg. Was bedeutet das?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht viel darüber. Ich frage mich aber, worin der Zusammenhang besteht.«
»Aber was ist der Bilderberg?«, fragte ich ungeduldig.
»Eine Art internationaler think tank. Sie wissen schon, wie diese Beraterstäbe, die in den Vereinigten Staaten so Mode geworden sind.«
Ich verstand überhaupt nicht, wovon sie sprach. Sie musste es bemerkt haben, denn sie schenkte mir ein verlegenes Lächeln.
»Ich kann Ihnen nicht sehr viel mehr dazu sagen, fürchte ich. Ich erinnere mich nur flüchtig an Bilderberg, weil ich vor sehr langer Zeit einmal einen Zeitschriftenartikel gelesen habe. Grob gesagt sind das Leute – Politiker, Ökonomen, Industrielle und Intellektuelle –, die sich jedes Jahr mehr oder weniger offiziell treffen, um über die Zukunft der Welt zu reden.«
»Das ist ja reizend! Man könnte dahinter auch eine Verschwörung vermuten. Ich wusste gar nicht, dass mein Vater ein Fan von Akte X war.«
Sophie senkte amüsiert den Kopf.
»Übertreiben wir mal nicht, diese Leute entscheiden nicht über unsere Zukunft, sie reden darüber. Ich denke nicht, dass man gleich von einer Verschwörung sprechen kann.«
»Wenn Sie es sagen!«, spottete ich. »Es ist schlimm genug, dass Journalisten wie Sie uns darüber nicht auf dem Laufenden halten!«
»Es gibt schon zu viele, die von solchen Dingen berichten!«
»Gibt es hier einen Internetanschluss?«
»Es gibt eine Telefondose, und mein Laptop liegt im Auto.«
»Meiner ist hier. Wir könnten sofort nach Bilderberg suchen.«
»Ja, aber erst werde ich das hier fertig machen«, sagte sie und zeigte auf die Pfanne hinter sich, »und dann werden wir in aller Ruhe am Esszimmertisch wie zwei zivilisierte Menschen zu Abend essen.«
»Selbstverständlich«, gab ich beschämt zurück.
Sie wandte sich um und tat ein paar Esslöffel Crème fraîche in die Soße. Dann ließ sie das Ganze noch etwa zehn Minuten garen, während ich ihr half, den Tisch zu decken.
Ich glaube, dass ich in den elf Jahren in New York kein einziges Mal bei mir zu Hause den Tisch gedeckt habe. Und fast hätte ich die Seiten für Messer und Gabel verwechselt. Ich hatte das Gefühl, eine Entgiftungskur zu machen, die einfachsten Handgriffe neu zu lernen. Ich schämte mich, aber es machte mir Spaß.
Wenige Minuten später trat Sophie mit einem Tablett ins Esszimmer und verkündete mit einem falschen südfranzösischen Akzent:
»Putenfrikassee à la provençale! Ein bisschen einfach, aber man macht es aus dem, was da ist! Ich mag die Weine aus dem
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