Das Jesusfragment
setzte mich wieder auf, als wir die Stadt verließen.
»Das ist doch aufregend, nicht wahr? Keine Angst, es ist noch nicht zu Ende, heute Abend gehen wir zum Haus Ihres Vaters, wenn ich Sie daran erinnern darf.«
»Ich fürchte das Schlimmste!«
Aber sie hatte Recht. Es war aufregend. Aufregender als ich es mir je hätte vorstellen können. Auf jeden Fall viel aufregender als Drehbücher für das New Yorker Fernsehen zu schreiben.
Wenige Minuten später waren wir bei ihrem Haus angelangt, und sie stürzte in den ersten Stock, um den Umschlag zu öffnen.
Bevor sie den Brief las, fragte sie mich:
»Darf ich ihn lesen? Schließlich ist es ein Brief Ihres Vaters. Vielleicht wollen Sie …«
»Nein, nein«, unterbrach ich sie. »Machen Sie schon! Lesen Sie ihn laut vor!«
Sie glättete das Blatt, breitete es vor sich auf dem Schreibtisch aus und begann zu lesen.
»Hochwürden,
ich danke Ihnen für Ihren letzten Brief und für die Sorgfalt und die Bereitwilligkeit, die Sie in dieser Angelegenheit aufgebracht haben. Dank Ihrer Hilfe konnten wir ein höchst befriedigendes Projekt glücklich zu Ende führen. Das Haus ist wunderbar, und dieser erste Aufenthalt in Gordes hat mich sehr glücklich gemacht, ja, begeistert. Obwohl ich mich immer für einen überzeugten Pariser hielt, der sich, wie ich zugeben muss, in letzter Zeit verändert hat, habe ich in Ihrem freundlichen Dorf eine Ruhe und eine Heiterkeit gefunden, die nichts mit Langeweile zu tun haben. Wie ich Ihnen versprochen habe, werde ich Sie über jede Art von Entdeckung auf dem Laufenden halten. Meine Nachforschungen basieren auf einem Notizheft von Chagall, das ich in Paris bei einem Antiquar erworben habe. Dieses Heft erwähnt Unterlagen von Dürer, die Chagall in diesem kleinen Haus versteckt haben soll. Ich weiß wohl, dass Sie dem nicht allzu großen Glauben schenken, aber wenn der Meister des Wunderbar-Naiven, des Traums und der Vorahnungen Ihnen dieses Haus direkt verkauft hat und Sie nie etwas darin gefunden haben, dann vielleicht deshalb, weil sich die Unterlagen immer noch in seinen Mauern befinden. Auf jeden Fall bestätigen die Notizen, dass der Maler bei seiner Abreise alles zurückgelassen hat. Da ich eine große Leidenschaft für Chagalls Leben und Werk empfinde, ist dies für mich ein idealer Grund, etwas verdiente Ruhe in Gordes zu finden! Ich wiederhole mein Versprechen: Ich werde Sie und das Museum in Gordes über alle meine künftigen Entdeckungen auf dem Laufenden halten, und wenn ich der Stadt oder Ihrer Pfarrgemeinde auf die eine oderandere Art unter die Arme greifen kann, tue ich das von Herzen gern.
Hochachtungsvoll«
Sophie hatte den Brief zu Ende gelesen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
»Interessant«, bemerkte sie lakonisch.
»Er hört sich ein wenig gönnerhaft an, oder? Man könnte meinen, hier habe ein treues Gemeindemitglied geschrieben, dabei hat er nie seinen Fuß in eine Kirche gesetzt«, erwiderte ich.
Sophie verdrehte die Augen.
»Darum geht es doch nicht. Interessant ist, dass wir jetzt wissen, welcher Zusammenhang zwischen Chagall und der Arbeit ihres Vaters besteht. Chagall hat Ihren Vater auf Dürer gebracht.«
»Ja. Erstaunlich.«
»Und aus diesem Grund hat er das Haus gekauft.«
»Und er hat eindeutig gefunden, was er suchte.«
»Dürers Manuskript.«
»Was ich aber nicht verstehe, ist die Haltung des Priesters. Mein Vater schien mit ihm auf gutem Fuß zu stehen.«
»Ja, aber dieser Brief wurde vor der Entdeckung des Dürer-Manuskripts geschrieben. Vielleicht wurden die Dinge kompliziert, als Ihr Vater es gefunden hat.«
»Zweifellos. Auf jeden Fall weiß dieser Priester viel mehr als er sagen will!«
In diesem Augenblick begann das Icon des mIRC-Programms am unteren Rand des Bildschirms zu blinken und ein Biep ertönte. Sphinx war zurück.
Sophie stürzte sich auf die Tastatur und öffnete das Dialogfenster.
»Hallo, Haigormeyer. Haben Sie meine Datei erhalten?«
»Ja. Morgen gebe ich Ihr Foto einem Freund bei Libé . Ich halte Sie auf dem Laufenden. Und, haben Sie was Neues?«
»Aber ja.«
»??«
»Ich habe eine kleine Runde auf einem interessanten Server im Vatikan gedreht. Die Cybercathos müssen noch viel lernen, wenn es um Datenschutz geht.«
»Wer weiß? Vielleicht geben Sie ihnen mal ein wenig Unterricht darin?«
» Warum nicht? Ende der Neunziger wurde ich geschnappt, wegen einer Dummheit. Ich war noch keine achtzehn Jahre alt. Der Spionageabwehrdienst hat mir einen Deal
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