Das juengste Gericht
seiner vorprogrammierten sexuellen Fehlentwicklung unterschlägst du.«
»Ich bin sein Verteidiger. Es ist meine Pflicht, die für ihn günstigen Umstände herauszustellen.« Schaller zuckte mit den Schultern. »Du sagst also nein?«
Schultz wiegte den Kopf hin und her. »Ich sage, dass es zu früh ist, dieses Gespräch zu einem abschließenden Ergebnis zu bringen. Für die nächsten Tage haben wir weitere Ermittlungsmaßnahmen in die Wege geleitet. Warten wir ab, welche Erkenntnisse sich daraus ergeben.«
»Die Tür ist also noch nicht zugeschlagen?«
»Nein. Mal sehen, was er in seinem Teilgeständnis einräumt. Dann müssen wir prüfen, inwieweit es sich mit unseren Ermittlungsergebnissen deckt. In den nächsten Tagen unterhalten wir uns dann weiter.« Schultz warf einen Blick auf seine Taschenuhr.
»Wie du merkst, musste ich zeitlich etwas anders disponieren, als ich es gestern bei unserem Telefonat angenommen hatte. Wir sehen uns um elf Uhr.«
Als Schultz das Dienstzimmer betrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde zu spät nahm Diener seinen Arm von den Schultern Natascha Breidels, mit der er bei einem Kaffee vor seinem Computer saß und plauderte. Breidel errötete.
Diener hatte sich sofort wieder im Griff. »Kollegin Breidel und ich haben die halbe Nacht zusammen geschuftet. Wir haben ...« Schultz konnte ein Glucksen nicht unterdrücken. »Ich hoffe, es gab auch angenehme Momente.«
Mit stoischem Gesichtsausdruck nahm Diener den Faden wieder auf. »Wir haben etwas Bedeutendes herausgefunden.« Er wandte sich zu Breidel. »Erklär du es, Natascha. Du kannst das besser als ich.«
Eine hochgezogene Augenbraue von Schultz machte deutlich, dass er den Übergang der beiden zum vertrauten Du bemerkt hatte. Die Rotfärbung in Breidels Gesicht wurde noch intensiver. Sie fasste sich und nickte. »Wir haben die von Krawinckels Computer gezogene Kopie gründlich durchgearbeitet. Dabei ist uns aufgefallen, dass das Glied des Mannes, dessen Gesicht im Verborgenen bleibt, trotz diverser Manipulationen Sunitas zu keiner Zeit erigiert ist. Unter Berücksichtigung der Aussage von Krawinckels erster Ehefrau, Frau Janssen, er habe zu keiner Zeit die Ehe vollzogen, sehen wir darin einen Hinweis auf Krawinckel.«
Schultz klatschte in die Hände. »Eine hervorragende Arbeit.« Diener hob die Hand. »Es kommt noch besser.« Er gab Breidel einen Fingerzeig weiterzusprechen.
Natascha Breidel richtete sich auf. Sie strahlte. »Mitten in dieser Sequenz legt der Mann seine Hände nach hinten auf den Rücken und presst seinen Unterleib nach vorn. Dabei krampft er einen kurzen Augenblick die Finger zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde wird dabei die Vorderseite des kleinen Fingers sichtbar. Der Nagel ist spitz zugeschnitten und glänzt. So, als sei er mit farblosem Lack überzogen.«
Erneut applaudierte Schultz. »Alle Achtung. Hervorragend ausgewertet. Das müsste reichen, Krawinckel wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Kindes anzuklagen und nicht nur wegen Besitzes und der Verbreitung von Pornografie.«
Es klopfte. Schaller steckte den Kopf durch die Tür.
»Wir sind aber komplett. Wenn es Ihnen recht ist, könnten wir anfangen.«
Schultz winkte die beiden Männer herein und bot ihnen Plätze an. Er belehrte Krawinckel über seine Rechte als Beschuldigter.
»Wie mir Herr Doktor Schaller kurz vor Ihrem Eintreten eröffnet hat, wollen Sie aussagen. Ich möchte einen Themenkreis an den Anfang stellen, der Sie von der Tat her wahrscheinlich nicht unmittelbar betrifft. Es soll vor einigen Jahren einen Vorfall in Ihrer Familie gegeben haben, der Sie sehr verletzt hat. Jemand soll gegenüber Ihrer Schwester, die nicht in der Lage ist, selbständig ihre Interessen wahrzunehmen, zu nahe getreten sein. Ist das richtig? Bitte schildern Sie uns den Sachverhalt im Zusammenhang.«
Krawinckels Haltung wich erheblich von seinem Auftreten bei seiner Vernehmung am 22. November ab. Er schien sichtlich gealtert. Seine Haare waren fettig, der Lack auf den spitzen Fingernägeln abgeblättert. Die eingenähten Schulterstücke in seiner blauen Clubjacke hingen ein Stückchen rechts und links an seinen Armen herunter. Sein Halsansatz, der aus dem geöffneten Kragen seines blau-weiß gestreiften Hemdes herauslugte, war welk und erinnerte an einen Truthahn. »Lisa-Marie, so heißt meine Schwester, ist krank. Sehr krank. Ihre angeborenen geistigen Fähigkeiten reichen nicht aus, die einfachsten
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