Das juengste Gericht
über die bestehende Freundschaft hinaus eine stärkere Zuneigung von Sunita gewünscht? Du bist doch immerhin ein wenig älter, als sie es war.«
Frau Namgyals Gesichtszüge wurden frostig. »Das kann nicht sein. Dubho hätte mir das erzählt. Natürlich sind beide Kinder in unserem Kulturkreis schon fast im ehefähigen Alter. Aber Dubho hat sich rasch den hiesigen Verhältnissen angepasst. Er ist in vielen Dingen noch sehr unreif.«
Dubho konnte seine Verlegenheit nicht verbergen. Er schüttelte den Kopf, seine Hände krallten sich ineinander.
Köhler machte ein nachdenkliches Gesicht. »Gut. Mir ist jetzt klar, dass es keine Geheimnisse gab, über die ihr gesprochen habt. Hast du denn vielleicht Beobachtungen gemacht, die dir komisch vorkamen?«
Dubho runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit? Wollen Sie jetzt etwas über das große Auto wissen?«
Schreiner und Köhler tauschten einen kurzen Blick, bevor Köhler fragte: »Interessierst du dich für Autos? Was war mit dem großen Auto?«
»Eigentlich sind mir Autos egal. Ich kenne die einzelnen Marken kaum. Nur die, die jeder fährt. Mercedes, BMW, VW und so. Ich weiß nicht, was das für ein Auto war. Jedenfalls war es riesig groß.«
»Ich weiß es auch nicht«, warf Frau Namgyal ein. »Von der Geschichte hat er mir nie etwas erzählt.«
Schreiner nickte Frau Namgyal zu und sah wieder zu Dubho hin. »Was hat denn dieses große Auto mit Sunita zu tun?«
»Ganz einfach. Es stand einmal nach Schulschluss in der Nähe der Schule. Sunita war mindestens hundert Meter von mir entfernt. Ich wollte sie einholen, um noch ein bisschen mit ihr zu reden. Auf einmal stieg sie in das große Auto und fuhr weg.«
»Hast du gesehen, wer noch in dem Auto war?«, fragte Schreiner.
»Ja, aber nur von hinten. Es war ein alter Mann. Er hatte schon graue Haare. Es war nicht ihr Papa.«
Frau Namgyal wandte sich ihrem Sohn zu und unterbrach ihn mit erhobenem Zeigefinger. »Schwindelst du auch nicht? Nicht, dass du zu viel Harry Potter gelesen hast. Du musst nicht etwas erfinden. Die Sache ist zu traurig und zu wichtig.«
Dubho schüttelte mehrmals den Kopf. »Quatsch! Es war so, wie ich es sage.«
Schreiner und Köhler gaben die starre Haltung, die sie zuvor eingenommen hatten, gleichzeitig auf und begannen unisono zu sprechen. Schreiner sah zu Köhler hin, lächelte und überließ ihm mit einer einladenden Handbewegung den Vortritt.
»Weißt du, wie der Mann heißt, oder kannst du uns genauer beschreiben, wie er aussieht?«
»Seinen Namen kenne ich nicht. Sunita hat ihn mir nie genannt. Er war immer im Anzug und sah vornehm aus.«
Mit argwöhnischem Blick musterte Schreiner den Jungen.
»Vorhin sagtest du, Sunita sei einmal von dem älteren Mann mit dem auffälligen Auto abgeholt worden. Jetzt hast du gesagt, dass er immer im Anzug war.«
Die braunen Wangen von Dubho wechselten in ein cremefarbenes Weiß. Wieder kaute er an den Nägeln und fixierte den Boden. Seine Stimme wurde lauter. »Ich weiß es selbst nicht mehr so genau. Sie fragen so komisch. Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Es kann einmal, es kann auch mehrmals gewesen sein. Jedenfalls war er schon alt.«
Schreiner nestelte in der Tasche, worin er seine Zigaretten verwahrte. Nach einigem Suchen zog er eine mehrmals gefaltete Fotokopie hervor. Er klappte sie auf, betrachtete sie, stand auf und ging zu Dubho hin. »Ich wollte dich sowieso heute fragen, ob du den Mann auf diesem Bild schon einmal gesehen hast. Deshalb habe ich es mitgebracht. Schau ihn dir genau an. Ist das vielleicht der Mann, der Sunita einmal oder mehrmals von der Schule abgeholt hat?«
Frau Namgyal schaute ihrem Sohn seitlich über die Schulter.
»Diesen Mann habe ich noch nie gesehen.«
Dubho legte die Kopie auf seinen Schoß und glättete sie. »Es kann sein. Das Bild ist nicht so gut, weil es schwarz-weiß ist. Er war ein paar Mal an der Schule. Ich erinnere mich jetzt besser. Sunita ist immer zu ihm hin. Dann sind sie zusammen weggegangen. Er stand aber immer weit weg. Deshalb würde ich ihn vielleicht nicht wiedererkennen. Also, er ist es wohl.«
»Sicher?«, fragte Schreiner. »Oder nicht so ganz? Sag es lieber ehrlich, wenn du unsicher bist. Das ist überhaupt nicht schlimm. Es geht Erwachsenen oft genauso.«
»Je länger ich das Foto betrachte, umso unsicherer werde ich.« Köhler biss sich auf den Daumen. »Haben du und Sunita über diesen Mann gesprochen?«
»Ganz selten. Eigentlich nur ein einziges Mal. Sie hat
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