Das Känguru-Manifest
Grüppchen zusammen. Jeder scheint unbedingt die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen zu wollen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich starre ratlos auf die Szenerie.
»Administrador viejo«, sage ich.
»Sueco viejo«, sagt das Känguru zustimmend.
Langsam sortiert mein Gehirn den Brei, und ich kann einzelne Stimmen heraushören.
»Der Generalsekretär will etwas sagen«, ruft einer.
»Der Generalsekretär soll die Schnauze halten!«, ruft ein anderer.
»Nicht in diesem Ton, Herr Abteilungsleiter!«
»Der Abteilungsleiter soll lieber selber die Schnauze halten!«, ruft eine mir bekannte Stimme. Es ist Friedrich-Wilhelm, den ich jetzt mitten im Gewimmel entdecke. Am hinteren Ende des Busses sehe ich auch Otto, der an einem kleinen Grill steht und Bratwürste wendet. Über seinem Grill hängt ein Banner: »Diese geheime Versammlung wird Ihnen präsentiert von BioBrause TM . BioBrause TM – gibt’s jetzt überall!«
Plötzlich kommt Friedrich-Wilhelm auf uns zu.
»Ah! Comandante«, sagt er. »Endlich!«
»Herr Generalsekretär«, sagt das Känguru und nickt.
»Verschaffen Sie mir doch ein bisschen Ruhe«, sagt Friedrich-Wilhelm. »Ich will etwas sagen!«
Das Känguru zieht ein Megafon aus seinem Beutel und ruft: »Alle mal die Schnauze halten!«
»Ah! Comandante ist endlich zugestiegen«, höre ich jemanden in der eingekehrten Ruhe flüstern.
Vorne im Bus, ganz in unserer Nähe, befindet sich ein Rednerpult. Friedrich-Wilhelm zwängt sich dahinter.
»Ich sage, wir machen es so wie besprochen, und damit basta«, ruft er.
Sofort bricht ein wütender Tumult aus Gemurmel, »Buh«- und »Dann mach’s doch alleine«-Rufen los.
»Ruhe!«, schreit der Generalsekretär. »Ruhe!«
Ich ziehe meinen Schuh aus und reiche ihn Friedrich-Wilhelm.
Der Generalsekretär nimmt den Schuh und schlägt damit mehrmals auf das Rednerpult.
»Ruhe! Ruhe!«, ruft er. »So wie besprochen! Es hat doch keinen Sinn, immer Sachen zu besprechen und dann alles genau anders als besprochen zu machen.«
Es gelingt ihm nicht, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Autoritäres Schwein!«, ruft eine.
»Faschist!«, ruft ein anderer.
»Macho!«, brüllt eine dritte Stimme.
»Ich sage, wir machen es genau anders als besprochen!«, ruft Otto von hinten.
»Genau!«, »Hervorragend!«, »Da bin ich dabei!«, »Der Reichskanzler hat recht!« und Ähnliches ruft die Menge.
»Was geht hier vor?«, flüstere ich.
»Das ist ganz normal«, sagt das Känguru. »So laufen die Vollversammlungen immer ab.«
»Die Vollversammlungen?«, frage ich.
»Vom Asozialen Netzwerk «, sagt das Känguru. »Du warst ganz schön lange auf Tour. Es hat sich einiges getan.«
»Sieht so aus …«, murmle ich.
»Die Titel haben übrigens keine Bedeutung«, sagt das Känguru. »Es gibt natürlich keine Hierarchie. Jeder darf sich so nennen, wie er will.«
»Comandante?«, frage ich und ziehe eine Augenbraue nach oben.
»Na ja«, sagt das Känguru schulterzuckend.
Noch einmal blicke ich mich im Bus um. Viele Gesichter sind mir unbekannt. Ein paar kenne ich vom Boxclub. Und …
»Hola, Comandante!«, salutiert eine kleine, dicke Frau vor dem Känguru. »Hasta la victoria siempre!«
Es ist die depressive Sachbearbeiterin vom Jobcenter.
»Ich grüße Sie, Große Vorsitzende«, sagt das Känguru.
»Schön, dass Sie wieder da sind, Herr Hauptmann«, sagt sie und schüttelt mir die Hand. »Wird Zeit, dass jemand etwas Ordnung bringt in diesen Sauhaufen.«
Ich kratze mich am Kopf.
»Komm, ich stell dich mal ein paar Leuten vor«, sagt das Känguru und zieht mich ins Gewusel.
»Hier der Geheimagent«, sagt das Känguru.
»Ah! Der Hauptmann vom Wannsee«, sagt der Geheimagent.
»Woher weiß er das?«, frage ich schaudernd.
»Das hier ist der Intendant«, sagt das Känguru.
»So kann ich nicht arbeiten!«, sagt der Mann kopfschüttelnd.
»Die drei, die hier Skat spielen, sind der Chefredakteur, der Abgeordnete und der Vorstandssprecher«, sagt das Känguru.
»Geradezu eine klassische Skatrunde«, sage ich.
»Auf ein Wort, Comandante«, sagt der Vorstandssprecher, und das Känguru setzt sich zu ihnen. So bin ich plötzlich auf mich allein gestellt.
»Was ist mit dir?«, fragt mich ein seltsam bartloser Rocker. »Bist du dabei?«
»Wobei?«, frage ich.
»Na, bei der Sache«, sagt er.
»Ach so …«, sage ich.
»Und biste dabei?«, fragt er noch einmal.
»Klar«, sage ich nickend. »Bin dabei.«
»Wusste ich doch«, sagt der Rocker.
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