Das Lächeln der toten Augen
ihrem Scheidungskrieg mit seinem Vater vor vier Jahren, hatten seine schulischen Leistungen nachgelassen. Obwohl der Vater, der zur See fuhr, eigentlich nie richtig für seine Familie da gewesen war und Mike ihn eher wie einen Onkel ansah, der von Zeit zu Zeit einmal kurz hereingeblickt hatte, um dann wieder hinter dem Horizont zu verschwinden.
Nun war auch sein bester Freund Sven für immer hinter einer Horizontlinie verschwunden.
Mutter hatte ihn gefragt, ob er darüber reden wolle, doch er war aufgestanden und in sein Zimmer gegangen. Eine halbe Stunde später war er in die Küche zurückgekehrt und hatte ihr gesagt, dass er zum Hafen gehe, um sich dort mit seinen Freunden zu treffen.
Mike Landers schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr über die Schillerstraße hinunter nach Bant. Den Brief hatte er dabei. Ihm war mulmig zumute. Noch über vier Stunden musste er warten, bis er ihn in den Briefkasten am Firmentor werfen konnte. Gott sei Dank hatte seine Mutter nichts bemerkt. Er hatte sie rechtzeitig gehört, um alle Spuren zu beseitigen. Vorerst zumindest. Er hatte die Schublade abgeschlossen. Schließlich musste er vorsichtig sein. Sie benahm sich in den letzten Tagen genauso fürsorglich, wie er es damals nach der Scheidung empfunden hatte. Am Ende kam sie auch noch auf die Idee, ihm nachzuschnüffeln.
Er folgte der Weserstraße und fuhr über den Banter Weg zum Banter See. Er wollte am Clubhaus vorbeischauen, glaubte aber nicht, dass es Sinn hatte, mit Tommy und den anderen zu reden. Er musste die Sache alleine durchziehen. Vielleicht war es sogar besser, wenn er den anderen nicht zu viel erzählte.
Als er über die Bunsenstraße in die Industriestraße einbog, wurde er von einem dunklen Wagen überholt. Er bremste sein Fahrrad ab und hielt vor dem alten Lagerschuppen. Der Schuppen war verschlossen. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und schloss das Bügelschloss auf. Er hatte Zeit und würde dort warten, bis es dunkel genug war, um den nächsten Schritt zu gehen.
Mike blickte sich noch einmal um, bevor er in den Schuppen ging. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nur der dunkle Wagen, der ihn zuvor überholt hatte, hielt an der Einmündung zur Benzstraße.
8
Sie behielten ihn im Visier. Ruhig und bewegungslos wie Raubtiere vor dem Sprung saßen sie in ihrem Versteck. Er machte es ihnen aber auch leicht. Ganz von selbst hatte er sich in ihre Fänge begeben. Ganz alleine war er gekommen. Kein Mensch weit und breit. Optimale Voraussetzungen. Jetzt durften sie keinen Fehler machen. Sie hatten einen klaren Auftrag. Der Junge, das Bild, der Brief und das Amulett. Vier Dinge, um die sie sich beinahe gleichzeitig kümmern mussten. Den Jungen würden sie bestimmt beeindrucken können. Aber würde die Mutter vielleicht Verdacht schöpfen?
Sie dachten darüber nach, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Situation hatte sich verändert. Die neue Sachlage erforderte Improvisationstalent. Aber sie wären nicht bis in den innersten Kreis vorgedrungen, wenn sie nicht über diese Gabe verfügt hätten. Der Alte wusste genau, wie wertvoll sie für ihn und die ganze Organisation waren. Deshalb zahlte er auch gut. Der ganze andere Quatsch interessierte sie nicht. Das war alleine das Spiel der anderen.
»Gehen wir rüber?«, fragte der Dunkelhaarige. Das gerollte »R« überlagerte die anderen Buchstaben.
»Wir warten noch!«, entschied der Blonde. »Und vergiss nicht, du wirst keinen Ton sagen. Du bleibst draußen stehen.«
Der Dunkelhaarige nickte.
*
Drei Stunden waren vergangen. Mike hatte sich auf die Couch in der Ecke gelegt und wartete auf seine Freunde.
Doch offenbar wartete er vergeblich. Weder Tommy noch Jochen und Luisa würden heute noch hier herauskommen. Es war bereits spät geworden. Doch das war nun auch egal. Er hatte den Brief ein weiteres Mal gelesen. Die Formulierungen waren gut gewählt. Die aufgeklebten Buchstaben wirkten bedrohlich. Niemand würde denken, dass ein Junge in seinem Alter dahintersteckte. Er malte sich aus, wie Simon Halbermann reagieren würde. Eine Million war eine Menge Geld. Konnte der eine solche Summe überhaupt innerhalb einer Woche beschaffen?
Sobald Halbermann das Geld hatte, sollte er einen Geburtstagsgruß an den neunzigjährigen Heiner in den Wilhelmshavener Boten setzen.
Mike lächelte. Ein Film hatte ihn auf die Idee gebracht. Ein Krimi mit Gene Hackmann und Harrison Ford, oder war es Michael
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