Das Leben meiner Mutter (German Edition)
»nicht aufhalten«. Er brachte der mürrischen Bäuerin vier schöne Semmeln und redete etliche Worte mit ihr. Als er fortging, spähte er flugs über den Hof. Zufrieden war sein Gesicht. Die Bäuerin war diesmal ausnahmsweise nicht grob und ungut gewesen. Die Semmeln mußten sie gefreut haben. Allerdings, der Maxl hatte sie auch in einer etwas heiklen Lage angetroffen, in welcher sie gezwungenermaßen verbleiben mußte, solange er sich in der Kuchl aufhielt. Die bis zu den Knien entblößten Beine der Bäuerin steckten in einem niederen Holzschaff warmen, dampfenden Wassers, in welchem ausgekochte Kamillen schwammen. Der ganze Raum roch danach. Die Heimrathin hatte ein schmerzverzogenes Gesicht, das sich erst allmählich ausglich. Der Maxl störte sie nicht sonderlich. Sie streifte lediglich ihren Rock ein wenig kniewärts. Auch der Maxl war weiter nicht verblüfft und sagte sogar mitleidig: »Herrgott, Bäuerin, und mit so wehen Haxen rackerst du von früh bis in die Nacht hinein? Mein Gott, mein Gott!« – Sie aber überhörte den menschlichen Ton seiner Worte und sagte nur: »Jaja, höllisch brennen sie heut wieder! Ich glaub’, es wird bald wieder ein anderes Wetter.« – Ihre Beine nämlich waren nach einer hierzulande üblichen Bezeichnung »offene Kindsfüße«, welche fast jede Bäuerin bekam, die viele Geburten hinter sich hatte und meistens schon etliche Tage nach der Niederkunft wieder schwer arbeitete. Unter der Biegung der Knie wucherten dicke Krampfadern. Die angeschwollenen Waden waren rot und blau angelaufen, und an den Knöcheln hatte sie schrecklich aussehende, fransige, unregelmäßige Löcher, die das pure, feuchte Fleisch bloßlegten. Um den zehrenden, unausgesetzten Schmerz zu lindern, nahmen die Bäuerinnen manchmal, wenn sie Zeit dazu fanden, ein Kamillen-Fußbad, bestrichen die Wundränder mit etwas Schmalz oder Butter, drückten ein frisch gepflücktes, kühlendes Huflattichblatt darauf und wickelten die Beine erneut mit grobleinenen Binden. Lang lebten solche »Kindsfüßlerinnen« oft, und nie klagten sie über ihre Leiden. Einen Doktor holten sie höchstenfalls, wenn der »Rotlauf«, die Blutvergiftung, das kranke Bein bedrohte. Aber sie mißtrauten den Ärzten und achteten geradezu ängstlich darauf, daß die Wundlöcher nicht verheilten, nicht zuwuchsen, denn, hieß es, «da kann der schlechte Saft aus dem Leib, und wenn er keinen Auslauf mehr hat, dann stirbt man«. Warum sollte also der Maxl, der diese Dinge kannte, verwundert sein!
Als er nun auf der Straße gen Aufkirchen ging, lächelte er einmal leicht und murmelte vor sich hin: »Heut hab’ ich’s zum Glück gut erraten!«
Beim Klostermaier kehrte er ein, obgleich er eigentlich ungesäumt heim sollte. Jeden Tag konnte er sich erst um fünf oder sechs Uhr nachmittags zu Bett legen, um dann gegen neun Uhr nachts seine Bäckerarbeit zu beginnen. Auf die Dauer hielt das der gesündeste Körper nicht aus. Die Arbeit hatte den Maxl ausgedörrt. Er war nur mehr Haut und Knochen. Sein Anzug hing an ihm wie auf einem Kleiderständer, und die Leute spöttelten: »Daß dich bloß der Wind nicht einmal verweht, Maxl! Knöpfel nur fest zu, nicht daß dich’s Windwetter einmal nackt auszieht!« Zäh, doch nicht allzu kräftig war der Maxl, aber in der letzten Zeit spürte er, wie weh ihm das viele Rackern tat. Manchmal fürchtete er, krank zu werden. Zudem wurden die Anforderungen immer größer. Seit einem Jahr fuhr noch ein Dampfschiff auf dem See, und an den schönen Sommertagen kamen eine Menge städtischer Ausflügler in die Ufergegenden. Wenn das überfüllte Schiff am Berger Schloß und Park vorüberfuhr, hielten alle Ausschau nach dem König und raunten sich Geschichten zu. Auch überspannte Ausländer waren unter den Sommergästen, die nicht wenig empört waren, wenn ihnen plötzlich die Ferngläser abgenommen und erst wieder hinterhalb Leoni ausgehändigt wurden. Der argwöhnische, überreizte König duldete solche Neugier nicht. Ruderboote mußten schnell am Berger See-Ufer vorbeifahren. Aus den Büschen des Parkes tauchten manchmal Gendarmen auf, die bellende Warnungsrufe ausstießen und sie zur Eile antrieben. Auch im Unterdorf von Berg mußten die Ausflügler einen ziemlichen Umweg machen, um die Wiesmaiersche Wirtschaft zu erreichen. In der Schloßnähe wurde kein Stehenbleiben geduldet. Der Wiesmaier hatte nie allzu viele Gäste. Ihm trugen die Hofleute das Geld zu. Dagegen suchten die Fremden massenhaft Leoni auf.
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