Das Leuchten der Orchideen: Roman (German Edition)
erkannte sie ihre Großmutter.
»Früher haben wir die Familienbibel hier aufbewahrt, aber das Klima hat ihr zugesetzt. Deshalb liegt sie jetzt im Computerraum des Herrenhauses, denn da gibt’s eine Klimaanlage«, erklärte Shane.
»Sind vorne die Geburten, Todesfälle und Eheschließungen der ganzen Familie eingetragen?«, fragte Julie mit einem Lächeln.
»Genauso ist es. Deine Mutter steht drin, auch du und Adam«, erwiderte Peter.
Julie dachte an ihren Bruder. Hier in dieser Kapelle hatte man das Gefühl, Adelaide liege auf einem anderen Planeten. Sie bezweifelte, dass Adam für den Zweig der Familie an diesem fernen Ort viel Interesse aufbringen würde.
Anschließend legte Shane den Riegel an der Kirche wieder vor, und Ramdin stieg aus und öffnete Julie die Wagentür.
»Einen Moment, Julie. Hier gibt’s noch etwas, was du vielleicht sehen möchtest«, sagte Shane.
Sie folgte den beiden um die Kirche herum, wo einige Bäume einer kleinen Wiese Schatten spendeten, die offenbar als Friedhof diente. In der Mitte befand sich ein durch einen niedrigen Eisenzaun geschütztes Grab mit großem Stein.
Die Inschrift lautete:
In liebevollem Gedenken an Eugene Orson Elliott
Ehemann von Charlotteliebender Vater von Roland
Verstorben 1941
Gründer von Utopia, Pionier und Philanthrop
Ruhe in Frieden
Julie betrachtete das Grab – so still und so fern von dem Ort, an dem er zur Welt gekommen war. Langsam dämmerte ihr, dass der hier begrabene Mann ihr Urgroßvater war. Dieser Platz war weit weg von Australien, und dennoch war sie damit verbunden. Daneben waren zwei weitere Gräber mit einem gemeinsamen Grabstein. Darauf las Julie:
Philip Elliott und Stephanie Elliott
Liebende Eltern von Peter und Shane
Verstorben 1994
Für immer vereint
»Ich wünschte, wir wüssten mehr über die Elliotts in der Familie«, sagte sie leise. »Warum denken wir nur so wenig über unsere Familien nach oder fragen Menschen, die uns nahestehen, ehe es zu spät ist? Wenn ich doch meine Großmutter nur öfter nach ihrem Leben hier ausgefragt hätte.«
»Bei uns ist es dasselbe«, stellte Peter fest. »Unser Vater hat kaum von seiner Jugend erzählt, und wir waren nicht neugierig genug, dass wir danach gefragt hätten. Und dann starb er so plötzlich. Dort ist Großvaters Grab.«
Julie trat vor das Grab und machte sich klar, dass sie an der letzten Ruhestätte ihres Großvaters stand, eines Mannes, den sie nie kennengelernt hatte. Sie wurde traurig.
»Man lebt von Tag zu Tag und denkt nicht viel über die Vergangenheit nach«, sagte Shane. »Jedenfalls glaube ich, dass zumindest Männer sich im Allgemeinen keine großen Gedanken um Familienbande und Menschen machen, die weit weg sind.«
»Tja, aber ich bin da, und ich bin neugierig«, erwiderte Julie. »Wo liegt denn unsere Urgroßmutter begraben?«, fragte sie, als sie zum Auto zurückgingen.
»In England. Charlotte hat viel Zeit dort verbracht, und als sie älter wurde, hat sie sich lieber in ihrer alten Heimat aufgehalten. Offenbar hat sie die Hitze in Malaya gehasst, während Eugene die Kälte verabscheute«, erklärte Shane. »Wir haben noch mehr Verwandte in Großbritannien, die wir aber auch kaum sehen.«
Julie schüttelte den Kopf. »Ich bin hergekommen, um mehr über meine Großmutter und meine Großtante herauszufinden, und jetzt wird mir klar, dass ich es mit einem ganzen unerforschten Stammbaum zu tun habe.«
Schon der Eingang zur Plantage Utopia war beeindruckend. Nicht nur der Torbogen aus massivem Holz, flankiert von hohen Bäumen, der große Landschaftsgarten und ein hoher Zaun, den purpurfarbene Bougainvillea überwucherte, fielen Julie ins Auge, sie sah auch den Schornstein und das Dach einer großen Fabrik sowie Bürogebäude auf dem Gelände. Der indische Wachposten am Schlagbaum salutierte, als er sie durchwinkte.
»Hier ist die Verwaltung untergebracht, und da drüben die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die Baumschule und Unterkünfte für die Mitarbeiter. Die Aufbereitungsanlage, die Raffinerie und die Fabrik sind dort entlang, und das sogenannte Stadtzentrum liegt ebenfalls da hinten«, erklärte Shane.
»Das Stadtzentrum?«, fragte Julie. »Ist das hier eine richtige Stadt?«
»Wir haben einen Hindutempel, Geschäfte, eine Bäckerei, eine Schule und eine Krankenstation. Außerdem gibt es Freizeit- und Sportanlagen, zum Beispiel eine Badmintonhalle. Und unten am Fluss haben wir Wohnhäuser mit Läden im Erdgeschoss gebaut«, sagte
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