Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
weiter, als ob es dieses Zwischenspiel gar nicht
gegeben hätte. Zwei Stunden später war der Vorratsraum in einem solchen
Zustand, dass man ihn benutzen konnte, und Emma gab ihnen Mehl, Tee und die
versprochene Ration Zucker aus.
Martha lächelte Emma an.
Gestern Abend hatte sie zum ersten Mal gelächelt, es war Emma gleich
aufgefallen. Das Lächeln dauerte nur kurz, aber immerhin, es war ein Anfang ...
und Emma lächelte zurück. „Martha ... Das ist doch nicht dein richtiger Name,
oder?“ Scheu senkte Martha den Blick und schüttelte den Kopf. „Und wie hat dich
deine Mutter genannt?“ Da sah Martha auf. „Amboora.“ Sie sprach den Namen mit
der gleichen Vorsicht und Ehrfurcht aus, mit der man kostbare, seltene Dinge
berührt. „Amboora“, wiederholte Emma. Amboora nickte ... und lächelte. „Ab
heute sollst du wieder Amboora genannt werden“, sagte Emma. Ambooras Augen
glänzten, und Emma wusste, dass sie etwas Richtiges getan hatte.
Vier Tage später hatte
sich die Zahl der Eingeborenen fast verdoppelt. Noch waren einige Hütten leer,
doch legten die meisten wohl gar keinen Wert darauf, in diesen Behausungen aus
Zweigen zu wohnen. Sie waren an das Leben unter freiem Himmel gewöhnt. Jeden
Morgen ging Emma zu den Menschen, die sich zwischen den Hütten niedergelassen
hatten, und sah nach, ob es Kranke oder Unterernährte gab, die sie verarzten
oder denen sie Nahrung geben musste. Anschließend backte sie mit Amboora
mehrere Brote. Für das Feuer im Ofen sorgte John mit einigen Helfern. Das
Kneten des Teigs brauchte viel Kraft, und Amboora stellte sich noch etwas
ungeschickt an, sodass Emma die meisten Laibe selbst kneten musste. Paul, John
und Eric waren meist mit Ausbesserungsarbeiten, Wasser-und Holzholen
beschäftigt. Auch sie machten den Eingeborenen klar, dass sie nur dann
Essensrationen bekämen, wenn sie arbeiten würden.
Die Abende gingen
schnell vorbei. Emma bereitete mit Amboora immer ein einfaches Abendessen aus
Brot und Suppe zu. Mit dem Fleisch mussten sie sparsam sein. Erst wenn Ian mit
den Schafen kam, konnten sie wieder öfter Fleisch essen. Jetzt hatten sie nur
die Rinder, die sich jedoch noch vermehren sollten, zwei Ziegen, die sie für
die Milch brauchten, und drei Hühner und einen Hahn. Doch die mussten wegen der
Eier am Leben bleiben.
Gegessen wurde im
Haupthaus. Beim Essen wurde wenig gesprochen. Paul und John redeten nur selten
miteinander, und ihr Ton war immer sehr kühl. Nach dem Essen half Emma Amboora
beim Abwaschen, John ging ins Nebenhaus, Eric zog sich meist ins Gästezimmer
zurück. Paul saß dann in seinem Arbeitszimmer, um sich den Schreibarbeiten zu
widmen. Er schrieb Berichte über den Zustand und die Fortschritte der
Missionsstation, die an die Missionsgesellschaft geschickt werden mussten,
machte Listen mit notwendigen Anschaffungen und kalkulierte die Kosten dafür.
Und nicht zuletzt musste eine Predigt geschrieben werden, die, wie Paul sagte,
„die Herzen erschüttern sollte“.
Meistens war Emma schon
längst eingeschlafen, wenn er kam. In den letzten beiden Nächten war er
zärtlicher zu ihr gewesen, und es gab Augenblicke, da glaubte sie fest daran,
dass sie und Paul wieder zusammenfanden. Wenn erst einmal die schwierige
Anfangszeit überwunden wäre, wenn sich die ersten Erfolge zeigen würden, wenn
die Eingeborenen in der Schule unterrichtet werden konnten, dann würde auch
Paul entspannter sein, und sie, Emma, würde dann vielleicht tatsächlich diesen
Brief von der unbekannten Verfasserin endlich vergessen können. Die meiste Zeit
aber sah sie ihrer gemeinsamen Zukunft nicht so hoffnungsvoll entgegen. Doch sie
verbot sich, zu verzweifeln und mit ihrem Schicksal zu hadern.
Paul hatte auf einem
schmalen Feldbett in seinem Arbeitszimmer geschlafen. Als Emma bei
Sonnenaufgang aufwachte, hörte sie, wie die Haustür zufiel. Er war
hinausgegangen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Sie hatte es aufgegeben, ihn zu
fragen, was er vorhatte. Paul lebte in seiner eigenen Welt. Sie war sicher, er
suchte nach den Missionaren, doch nie sprach er darüber. Auch ertappte sie sich
dabei, dass sie Dinge betrachtete und sich fragte, ob Margarete Weiß sie auch
in der Hand gehabt hatte, und dann konnte sie nicht glauben, dass keiner der
Eingeborenen etwas über ihr Schicksal wusste. Doch seit ihrer Ankunft hatte sie
niemanden mehr gefragt. Wenn sie ehrlich war, dann musste sie sich eingestehen,
dass sie sich vor
Weitere Kostenlose Bücher