Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Tränen
nicht sehen und zugleich sehnte sie sich nach nichts mehr als nach einem
letzten Blick, einer letzten Berührung. Es dauerte, bis er sagte: „Leben Sie
wohl, Emma.“ Sie wollte ihm nicht hinterher sehen – um ihretwillen nicht
und um seinetwillen auch nicht.
Der Motor sprang an.
Erst als das Brummen immer leiser geworden war, drehte sie sich um. Eine
rötliche Staubfahne schwebte über dem Land und verschwand im meerblauen Himmel.
Es war wieder still, bis auf das Bellen der Hunde. Sie wischte sich eine Träne
aus dem Gesicht. Als sie wieder zum Vorratshaus sah, zuckte sie zurück. Petrus
stand unter dem Dach im dunklen Schatten. Das Weiß seiner Augen und das
orangefarbene Stirnband leuchteten. Er trat aus dem Schatten und hob seinen
Blick zum Himmel. Dort oben kreiste ein Vogel mit breiten Schwingen. Er sah
hinauf und ging ohne ein Wort davon, den Blick noch immer zum Himmel gehoben.
Am Abend, im schwachen
Licht der Kerosinlampe, stand sie im Schlafzimmer vor dem Spiegel, der über dem
Waschtisch angebracht war. Sie knöpfte die weiße Bluse auf, lockerte den
Knoten, ließ ihr Haar auf die Schultern und über die Brüste fallen und
betrachtete sich. Eine Frau von zweiundzwanzig, dachte sie. Schon als sie von
zu Hause aufgebrochen war, war sie nicht füllig gewesen, aber inzwischen hatte
sie noch mehr an Gewicht verloren. Die Anstrengungen und Belastungen hatten
ihre Spuren hinterlassen. Sie dachte an Robert, holte sich für ein paar
Augenblicke den Abend auf der Veranda zurück, den kurzen Spaziergang, den Kuss.
Ihr wurde heiß, und bevor der Schmerz zu groß wurde, verbot sie sich die
Erinnerung. Wie würde sie in zehn Jahren aussehen? Verbittert? Einsam?
Aus dem Arbeitszimmer
drangen Licht und das Rascheln von Papier. Sie seufzte leise. Rasch zog sie
sich ganz aus und wusch sich. Doch sie zögerte, sich ins Bett zu legen. Es war
zu heiß, sie war zu aufgewühlt, und sie fühlte sich zu einsam. Sie sehnte sich
nach einem Menschen, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie vermisste die
Freundschaft mit anderen Frauen, das Lachen und das gemeinsame Arbeiten. Ach,
Vera, dachte sie, wie schön wäre es, du wärest hier! Sie dachte auch an ihre
Mutter, und sofort überfiel sie das bekannte Schuldgefühl. Wie ging es ihr?
Warum hatte sie noch nicht geschrieben? Sicher, die Post brauchte sehr, sehr
lange ... Und was war mit ihrem Vater? War er wirklich tot, verscharrt,
irgendwo in den Weiten Sowjetrusslands? Und ihr Bruder? Lief er immer noch
irgendwelchen hetzerischen Parolen hinterher? Ach, Papa, seufzte sie, mache ich
es richtig? Warum kann ich dich nicht mehr fragen? Du hast mir immer geholfen,
die richtigen Antworten zu finden. Sag, ist es richtig, hier zu sein? Sie
lauschte, doch sie hörte keine Antwort.
Schließlich nahm sie
einen Bogen Papier aus der Schublade des Frisiertisches und begann zu
schreiben.
Liebe Vera,
ich wünschte mir, Du wärest hier,
ich wünschte mir jemanden, mit dem ich reden könnte.
Paul arbeitet viel, berichtet über
die Arbeiten und kalkuliert die Kosten für Reparaturen.Die Missionsgesellschaft
entscheidet dann, wie viel Geld sie zur Verfügung stellt. John Wittling wohnt
im kleineren Nebenhaus. Seine Frau Isabel soll nachkommen, doch sie ist
lungenkrank und das trockene Wüstenklima ist ihrer Gesundheit nicht zuträglich.
Es heißt, sie käme zu Weihnachten, das ist ja schon in einem Monat. Ich hoffe,
dass sie bald gesund wird, denn dann hätte ich ja vielleicht jemanden, mit dem
ich reden könnte ...
Aber ich will mich nicht beklagen.
Die Frauen auf den abgelegenen Farmen leben seit Jahrzehnten in einer solchen
Einsamkeit. Und ich bin doch gerade erst angekommen!
Den ganzen Tag war es heiß wie in
einem Backofen. Auf dem Thermometer habe ich heute Nachmittag 48 Grad Celsius
abgelesen!
Es gibt jeden Tag sehr viel zu tun.
Die Menschen brauchen uns. Sie gehen sogar in die Kirche, um Paul predigen zu
hören.
Mit Paul wird es immer schwieriger.
Er verschließt ein Geheimnis in seinem Innern und teilt es nicht mit mir. Was
kann es sein, das ihn so quält und das er unbedingt vor jedem verstecken will?
Ich bin verzweifelt. Du weißt, dass ich ein rechtschaffener Mensch bin, dass
ich ehrlich bin und weder hinterhältig noch untreu. Doch es kam uns jemand
besuchen. Er ist Fotograf, und als er mich begrüßte, als er meine Hand nahm und
mir in die Augen sah, da wurden meine Knie weich und die Röte muss mir ins
Gesicht
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