Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
Schichten des Echos ein.
Die Bilder meiner Mutter, Großmutter, Urgroßmutter tauchten vor mir auf, ich spürte, wie sich das Echo unter meinem Zwerchfell ausbreitete, und öffnete den Mund.
Der Schrei warf mich nach hinten, da ich keinen festen Boden unter den Füßen hatte. Nicht fallen, nicht fallen, nicht fallen! Sofort schloss ich den Mund und konzentrierte mich darauf, meinen Körper wieder auszubalancieren. Ich sackte zwar noch ein Stück ab, fing mich aber über dem Boden wieder.
»Nicht schlecht!«, kommentierte Macius. »Du musst deinen Körper noch ein bisschen besser beherrschen, und auch dein Schrei muss noch wesentlich kräftiger sein, aber sonst war es wirklich gut!«
Yes! Ich war Super-Banshee. Lächelnd ließ ich mich wieder auf den Boden nieder, und der Stress mit dem blöden Auge war erst einmal vergessen.
»Macius?« Es gab da etwas, das ich ihn schon seit einer ganzen Weile fragen wollte.
»Ja?«
»Wenn ich meine Stimme benutze, sehe ich vor mir die Bilder meiner Ahnen.« Wahrscheinlich wusste Macius das schon, doch ich wollte mich so verständlich wie möglich machen. »In jeder Schicht habe ich die dazugehörende Vorfahrin vor Augen.«
»Hmm.« Macius nickte auffordernd.
»Beim ersten Mal, als mein Schrei fast die Kuppel zum Einsturz gebracht hätte, bin ich in tiefere Schichten vorgedrungen. Ich habe auch ziemlich viele Bilder gesehen, aber ich glaube nicht, dass es mehr als vielleicht zehn oder zwölf waren.«
»Was möchtest du nun wissen?«
»Wenn ich es schaffen würde, wirklich zum Kern vorzudringen, was würde dann passieren? Ich meine, mit dem Schrei oder, besser gesagt, mit jenen, die er trifft.«
Macius überlegte eine Weile. »Wahrscheinlich könntest du dann eine ganze Stadt zum Einsturz bringen. Die Wucht würde der einer Bombe gleichkommen.«
»Also lasse ich das besser? Aber nur mal aus Interesse, wen würde ich dort sehen? Aither selbst?«
»Von all diesen Fragen kann ich dir nur die eine beantworten«, entgegnete Macius. »Und zwar die erste. Es wird eine Zeit des Kampfes auf dich zukommen, doch solange Menschen zugegen sind, solange du dich nicht weit über der Erde und in einem Gebiet befindest, in dem keine Menschen leben, solltest du nie bis in den Kern deines Echos vordringen. Ich bin davon überzeugt, dass es dir mit wachsender Übung gelingen wird, aber der Kern deines Echos hat eine unglaubliche Zerstörungskraft. Aileen, wenn du dein Potenzial voll ausschöpfst, bist du die gefährlichste Waffe auf dieser Welt.«
In dieser Nacht dachte ich lange darüber nach, wer ich eigentlich war. Macius war mit unserem Training sehr zufrieden gewesen, deshalb hatten wir ausnahmsweise mal früher Schluss gemacht. Sein Kommentar mit der gefährlichsten Waffe der Welt ging mir nicht aus dem Kopf. Wenn ich wirklich so viel Macht hatte, dann war das echt eine riesengroße Bürde. Irgendwie war mir der Gedanke gekommen, dass ich mich selbst ziemlich gut kennen und kontrollieren können sollte, wenn ich eine solche Verantwortung tragen musste.
Das brachte mich zu Thomas. Seit Beginn meiner Lehre war ich zwischen »Ich mag ihn« und »Ich mag ihn nicht« hin- und hergerissen, als würde ich ein mentales Gänseblümchen rupfen. War es nicht Zeit, dass ich mir selbst gegenüber zugab, dass er für mich mehr als ein Freund war?
Ich konnte seine Gedanken nicht lesen, aber ich spürte, dass auch er etwas für mich empfand. Irgendwas. Ich hatte es in dem Augenblick gespürt, als er mir nach dem Angriff der Ranken in die Augen gesehen und sich entschuldigt hatte. Eigentlich auch schon früher, nur hatte ich immer gedacht, ich würde es mir nur einbilden. Und dann die ganze Eifersuchtsgeschichte!
Aber für seine Gefühle war ich nicht verantwortlich, nur für meine eigenen. Und … ich war verliebt in Thomas.
Da. Ich hatte es endlich zugegeben. Sollte ich es auch Thomas gestehen? Mann, warum war es nur so schwer, jemandem zu sagen, was man fühlt?
Während ich mir Szenarien für ein mögliches Liebesgeständnis ausmalte, fielen mir irgendwann die Augen zu, und ich dämmerte hinein in einen Traum, in dem ich mich erneut durch einen nächtlichen Wald laufen sah. Diesmal war es jedoch Sommer, und ringsherum schwirrten Glühwürmchen durch die Luft. Über mir ertönte der Ruf eines Kauzes, das Gras unter meinen nackten Füßen fühlte sich weich und feucht an. Die Nacht war viel zu schön, um jemanden zu betrauern, doch mich zog es zu einer menschlichen Behausung. Zu einer
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