Das Lied der Dunkelheit
genannt hatte. Was tat Arrick da?
Um in seinem Lauf innezuhalten, war es zu spät, deshalb streckte er die Arme aus und setzte zum Sprung an; er schlug ein Rad, vollführte hintereinander drei Salti rückwärts und kam ein paar Meter vor seinem Meister zum Stehen. Arrick schnappte sich aus der Ansammlung tödlicher Utensilien, die er unablässig durch die Luft wirbelte, das Metzgermesser, und schleuderte es in Rojers Richtung.
Der hatte natürlich mit diesem Wurf gerechnet, drehte eine Pirouette und fing das stumpfe und mit einem besonderen Gewicht ausbalancierte Messer mühelos mit seiner gesunden Hand auf. Nachdem er einmal um seine eigene Achse gewirbelt war, reckte er sich steil in die Höhe und warf das Messer zurück, direkt auf Arricks Kopf.
Auch Arrick drehte sich einmal im Kreis, und als er den Zuschauern wieder sein Gesicht zukehrte, klemmte das Messer fest zwischen seinen Zähnen. Die Leute jubelten, und während die Klinge wieder zu den anderen Gegenständen in die Luft wanderte, ergoss sich klappernd ein ganzer Schwall Klats in den Sammelhut.
»Rojer Achtfinger!«, tönte Arrick. »Trotz seiner zehn Jahre und mit nur acht Fingern ist er ein gefährlicherer Messerwerfer als jeder erwachsene Mann!«
Die Leute applaudierten. Rojer hielt seine verstümmelte Hand in die Höhe, damit jeder sie sehen konnte, und die Leute verliehen ihrem Staunen lautstark Ausdruck; von allen Seiten hörte er langgezogene Aaahs und Ooohs. Arricks Bemerkung hatte die meisten Leute zu der Annahme verführt, Rojer hätte das Messer mit seiner verkrüppelten Hand aufgefangen und zurückgeworfen. Sie würden es anderen weitererzählen und dabei gehörig übertreiben. Um zu verhindern, dass Rojer vom Publikum mit einem Spottnamen betitelt wurde, war er den Leuten zuvorgekommen und hatte ihm zuerst einen Spitznamen verpasst.
»Rojer Achtfinger«, murmelte der Junge und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen.
»Hopp!«, schrie Arrick. Rojer schwenkte herum, während sein Meister den Pfeil nach ihm warf. In die Hände klatschend, erwischte er das Geschoss, ehe es sich in sein Gesicht bohrte. Abermals machte er eine Drehung und wandte dem Publikum den Rücken zu. Mit seiner gesunden Hand schleuderte er den Pfeil zwischen den gespreizten Beinen hindurch in Richtung seines Meisters zurück, doch als er dann flink zurückschnellte, riss er seine verstümmelte Hand hoch. »Hopp!«, brüllte er.
Arrick täuschte Angst vor und ließ die Klingen fallen, mit denen er jonglierte. Lediglich den Schemel fing er so auf, dass sich die Pfeilspitze mitten in die Sitzfläche bohrte. Mit einer Mimik, als könne er sein Glück nicht fassen, starrte Arrick den Schemel an. Als er das Geschoss blitzschnell herauszog, zuckte er kurz mit dem Handgelenk, und der Pfeil verwandelte sich in einen Blumenstrauß, den er dem hübschesten Mädchen im Publikum überreichte. Noch mehr Münzen sammelten sich im Hut.
Als Rojer sah, dass sein Meister nun zur Magie überging, flitzte er zu der Tasche mit den Utensilien, die Arrick für seine Zaubertricks brauchte. Doch ehe er sie erreichte, kam ein Ruf aus der Menge.
»Spiel auf deiner Fiedel!«, verlangte ein Mann. Darauf folgte allgemeine Zustimmung. Rojer blickte hoch und erkannte denselben Burschen, der tags zuvor so hartnäckig den Auftritt von Arrick Honigstimme gefordert hatte.
»Ihr habt wohl Lust auf ein bisschen Musik, was?«, fragte Arrick die Zuschauer. Als Antwort ertönte ausgelassener Jubel. Sofort marschierte Arrick zur Tasche, holte die Fiedel heraus, klemmte sie sich unter das Kinn und wandte sich wieder dem Publikum zu. Aber bevor er mit dem Bogen die Saiten berühren
konnte, protestierte der Mann, der als Erster den Wunsch nach Musik geäußert hatte.
»Nicht du sollst spielen, sondern der Junge!«, grölte er. »Lass Achtfinger musizieren!«
Mit wütender Miene blickte Arrick zu Rojer hin, während die Menge anfing zu skandieren: »Achtfinger! Achtfinger!« Schließlich zuckte er mit den Achseln und gab seinem Lehrling das Instrument.
Mit bebenden Händen nahm Rojer die Fiedel in Empfang. »Übertrumpfe auf der Bühne niemals deinen Meister« lautete eine Regel, die jeder Lehrling sich beizeiten zu Herzen nahm. Aber das Publikum feuerte ihn an, er möge spielen, und wieder einmal lag der Bogen so herrlich angenehm in seiner verstümmelten Hand, die nicht eingeengt wurde von diesem verfluchten Handschuh. Er schloss die Augen, fühlte unter seinen Fingerspitzen die stillen Saiten, und
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