Das Lied der Maori
Stollen, die wir nicht ausgegraben haben. Theoretisch könnte da noch jemand sein. Jedenfalls, am Wetterschacht sind wir jetzt bald. Wenn wir ihn da nicht finden ...« Matt senkte den Kopf. »Ich fahre gleich wieder ein, Miss Lainie. Wünschen Sie uns Glück.«
Matt fuhr tatsächlich ein, obwohl Dr. Leroy es ihm am liebsten verboten hätte. Schließlich wankte er vor Müdigkeit. Andererseits wollte er die letzten Spatenstiche miterleben – und eventuell Probebohrungen durchführen, falls sich ein verdächtiger Hohlraum auftat. Die Gefahr in der Mine war längst nicht gebannt.
3
Elaine zog ziellos über das Minengelände, wo die Angehörigen der Opfer und viele Helfer aus dem Dorf inzwischen ein wenig zur Ruhe kamen. Mrs. Carey und Mrs. Leroy schliefen auf den für Verletzte vorbereiteten Liegen. Dr. Leroy döste in Marvin Lamberts Sessel. Für die Lamberts selbst hatte er Feldbetten in einen Nebenraum bringen lassen. Marvin hatte sich letztlich in einen Dämmerschlaf getrunken, und Nellies Jammern hatte Mrs. Leroy irgendwann nicht mehr ausgehalten und mit Laudanum betäubt. Jetzt schlief Tims Mutter friedlich neben ihrem Mann, der sich unruhig hin und her warf und noch im Traum zu schimpfen schien.
Die meisten Frauen und Kinder der Opfer hatte man nach Hause gebracht. Einige hielten die Totenwache. Wer noch Hoffnung hatte, wartete nach wie vor im Hof. Es war eine warme Nacht; die Frauen zitterten eher vor Angst und Erschöpfung als vor Kälte. Dennoch hatte Mrs. Carey Decken verteilen lassen.
Madame Clarisse hatte ihre Mädchen nach Hause beordert. Hier gab es für sie nichts mehr zu tun, und sie ließ sie nachts nicht gern unbeaufsichtigt. Auch erschöpfte Männer waren Männer, und sie würden die Freudenmädchen als Freiwild betrachten. Der Reverend fuhr sie mit seinem Frachtwagen in die Stadt. Elaine dagegen hatte nur den Kopf geschüttelt, als Madame Clarisse sie bat, Banshee noch einmal anzuspannen.
»Ich bleibe hier, bis sie ... bis sie ...« Sie sprach nicht weiter, denn sie befürchtete, schon aus Erschöpfung in Tränen auszubrechen. »Mir tut schon keiner was«, sagte sie dann gefasster.
Letztendlich landete sie im Stall bei Banshee und Fellow, schmiegte sich in einen Bund Heu und umarmte wieder einmal nur Callie. Es schien ihr Schicksal zu sein, allenfalls bei den Tieren Trost zu finden.
Aber dann, fast schon gegen Morgen, schreckte ein Ruf sie aus dem Dämmerschlaf.
»Sie haben jemanden gefunden!«, meldete eine jubelnde Stimme. »Sie haben Lebenszeichen! Jemand scharrt von innen Schutt weg!«
Elaine eilte aus dem Stall; sie nahm sich nicht mal die Zeit, das Stroh aus ihren Haaren zu schütteln. Auf dem Hof traf sie einen jungen Bergmann in einer Traube von Frauen, die wieder Hoffnung schöpften.
»Wer ist es?«
»Sind es mehrere?«
»Sind sie verletzt?«
»Ist es mein Mann?«
»Ist es mein Sohn?«
Immer wieder diese Frage. Ist es Rudy, ist es Paddy, ist es Jay, ist es ...
»Ist es Tim?«, fragte Elaine.
»Ich weiß es doch nicht!« Der junge Mann konnte sich des Ansturms kaum erwehren. »Bis jetzt sind es nur Geräusche. Aber sie graben sie jetzt aus. Vielleicht noch eine Stunde ...«
Elaine blieb zitternd, weinend und betend bei den anderen Frauen. Alle waren am Ende ihrer Kräfte. Und dies war die letzte Chance. Mehr Überlebende würden sich kaum finden.
Schließlich dauerte es noch fast zwei Stunden, bis die Nachricht nach oben drang.
»Ein Junge, Roly O’Brien. Sagt der Mutter Bescheid! Der Kleine ist völlig am Ende, aber unverletzt. Und ...«
Die Frauen drängten zum Mineneingang und blickten erwartungsvoll dem Förderkorb entgegen.
»Der andere ist Timothy Lambert. Aber lasst den Doktor durch ... schnell, es ist eilig ...«
Elaine sah ungläubig auf die Trage, auf der sie Tim ins Freie trugen. Er rührte sich nicht, war ohne Bewusstsein, sah aber nicht aus, als läge er in tiefem Schlaf. Sein Körper schien keine Spannung zu haben. Elaine hatte fast den Eindruck, eine Gliederpuppe vor sich zu haben, die jemand weggeworfen und mit verrenkten Beinen achtlos liegen gelassen hatte. Aber er musste leben, er musste einfach!
Elaine wollte sich näher heranschieben. Aber dann war Dr. Leroy auch schon da und kümmerte sich um den Verletzten. Verängstigt beobachtete Elaine, wie er den Puls fühlte, auf den Atem des Kranken hörte und seinen Körper vorsichtig abtastete.
Schließlich richtete er sich auf. Elaine versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, das wie versteinert
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