Das Los: Thriller (German Edition)
Leinenhose trug er ein blaues Hemd.
»Signora, darf ich bitten!«, sagte er mit einem überraschend vornehmen Ausdruck und half ihr beim Aussteigen. Kaum hatte sie sicheren Stand, ergriff Calzabigi ihren Arm und hakte ihn bei sich unter.
»Darf ich vorstellen: Monsieur Gotzkowsky«, sagte Calzabigi mit tragender Stimme und zeigte auf den Mann, der sich kurz verbeugte und ihnen anschließend voranging.
»Der Fabrikant?«, fragte Marie erstaunt.
Tatsächlich löste der Name ein paar Erinnerungen bei ihr aus. Zuletzt hatte sie ihn als einen der Schöffen bei der ersten Ziehung der Lottozahlen gesehen. Alle tuschelten darüber, dass er bankrott sei, und so war er nun auch gekleidet.
»Schauen wir uns eine Fabrik an?«, flüsterte sie in Calzabigis Ohr.
Sie erhielt jedoch keine Antwort.
Gemeinsam erreichten sie den Eingang. Erst die Worte, die über der Tür in das Holz geschnitzt waren, verrieten ihr, wo sie waren: Maison des Orphelins . Sie fröstelte, nicht nur vor Kälte. Zwar war sie niemals zuvor hier gewesen, doch Charles hatte sie, nachdem sie sein Vertrauen gewonnen hatte, ein ums andere Mal in seinen Erzählungen an diesen Ort geführt. Es waren düstere Berichte, und sie fühlte sogleich eine starke Beklemmung, als sie durch die offene Tür in das dunkle Innere blickte.
Calzabigi schien ihr Unbehagen zu fühlen und streichelte ihre Hand. »Hab keine Angst«, sagte er. »Wie ich sagte, es wird dich erfreuen.«
Das freundliche Gesicht einer jungen Frau in Schwesterntracht tauchte vor ihnen auf, und sie wurden herzlich begrüßt. Sie sah so ganz anders aus als die grausamen Gouvernanten in Charles’ Schilderungen. Als sie den Absatz einer Treppe erreichten, kamen zwei sich fröhlich jagende Kinder an ihnen vorbeigestürmt. Jedes hatte einen Stapel Bücher unter dem Arm.
»Seid zum Abendessen wieder hier!«, rief die Gouvernante den beiden hinterher, bevor sie die Tür schloss.
Marie suchte vergeblich nach dem Riegel, den Charles beschrieben hatte. Die Treppe führte sie in den oberen Stock. Von einem hellen Flur gingen mehrere weit offenstehende Türen ab, und aus einem Raum drang fröhliches Kindergeschrei.
»Bitte schön!«, sagte Gotzkowsky mit einem gutmütigen Lächeln und geleitete sie in das Zimmer.
Kinder tobten lachend um Tische herum, auf denen überall bunte Blätter und kleine Bücher lagen. An einer Seite des Raums stand etwas, das wie eine riesige Teigrolle aus Eisen aussah.
»Die Druckerpresse ist installiert! Hervorragend«, stieß Calzabigi aus, löste sich von Marie und schritt auf das Gerät zu, um es genauer zu betrachten.
»Schaut Euch lieber den ersten Kalender an, er ist fertig!«, verkündete Gotzkowsky und nahm von einem Tisch ein kleines Buch, um es Calzabigi zu überreichen.
Der blätterte es andächtig durch, wie ein Gesangbuch, begleitet von einem Mienenspiel seiner Augenbrauen, das Zufriedenheit verriet. »Ganz ausgezeichnet!«, rief er schließlich.
»Was ist das?«, wollte Marie wissen und griff sich ebenfalls eines der kleinen Bücher.
»Ein Lottokalender!«, antwortete Gotzkowsky mit freudiger Stimme.
»Ein was?«, fragte Marie und beschaute sich das Büchlein in ihren Händen genauer. Auf der Titelseite war das königliche Wappen aufgedruckt. Auf den nächsten Seiten fand sie Zeichnungen, die den Druck und Verkauf von Lotterielosen, Szenen der Ziehung und Abbilder der Fortuna zeigten. Auf allen Bildern lachten die Menschen fröhlich. Dazwischen fanden sich große Passagen mit Text, der lobende Ausführungen über das Lotteriespiel enthielt.
»Ein dem Lotteriespiel gewidmeter Almanach. Wir erklären die Regeln, erteilen Ratschläge!«, erläuterte Calzabigi stolz.
»Fünftausend Stück haben die Kinder bereits verteilt!«, ergänzte Gotzkowsky. Triumph schwang in seiner Stimme. »Und weitere fünftausend verteilen wir ab morgen!«
Maries Blick schweifte über die Reihen der glücklich wirkenden Jungen und Mädchen.
»Ich habe beim König erreicht, dass die alte Leitung des Waisenhauses samt Personal abberufen worden ist. Mein Freund Gotzkowsky hat die Leitung übernommen. Und anstelle der Spinnerei stellen wir nun die Lottokalender her und verteilen sie mithilfe der Kinder.«
»Und die Kinder erhalten einen gerechten Lohn«, betonte Gotzkowsky. »Es arbeiten nur diejenigen, die möchten.«
»Und wer nicht will oder nicht kann, darf spielen oder lernt Schreiben und Lesen«, sagte Calzabigi und ging zu einer versteckt gelegenen Nebentür.
Als er sie
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