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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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den Ideen des Westens auch die richtige sozialistische Botschaft versteckt enthalten war. Nirgends hat man die Lieder von Bob Dylan vielleicht so begeistert entschlüsselt wie in Stralsund oder Apolda. Und nirgends auf der Welt wurde Angela Davis so verehrt wie in Schwedt oder Jena.
    Während hier in Westberlin wahrscheinlich mehr Menschen leben, die Verehrer der sowjetischen Filmkunst sind, als je auf der anderen Seite der Mauer.
    Wenn deutsch die Verkehrssprache der Amerikaner geworden wäre, gäbe es dann einen echt deutschen Blues?
    Oder russisch – könnte diese Sprache je so verheißungsvoll sein für junge Menschen, jemals so ein attraktives Abenteuer, wie die Kulturmacher des Ostblocks sich das gewünscht haben? Ihnen fiel dazu nur ein, dass sie ordentlich Druck und Zwang ausübten für dieses Ziel. Aber damit macht man keine Sprache attraktiv, kein Weltbild und keine Idee. Und durch Verlogenheit, Doppelmoral noch viel weniger.
    Wie ist es andererseits, als Musiker hier aufzuwachsen, wo die Wurzeln der eigenen Musik verschüttet sind und der Kessel der kulturellen Impulse etwa 6400 Kilometer Luftlinie weit entfernt brodelt und zischt, in New York, denn von dort scheint doch alles herzukommen? Und was man sich ausdenkt, wird sofort daran gemessen, wieviel Geld es erbringen kann und welche Werbung sich daran anhängen lässt?
    Das wird sie nie erfahren, ist nur dabei, sich hier einzuleben. Tag für Tag, Zug für Zug.
    Dass sie wirklich in der Fremde gelandet ist, in einem Land mit ganz anderen Regeln, das kann sie bisher kaum jemandem klarmachen. Es verblüfft sie ja selbst. Sprechen wir denn nicht alle das gleiche Deutsch?
    Falls, denkt sie, dieses Land jemals wieder zusammenwächst, wird das erst mal ein großes Tohuwabohu ergeben, wird alles hier eine Weile lang wie ein vollkommen unaufgeräumtes Kinderzimmer aussehen. Und erst die übernächste Generation wird das vielleicht zu einem erwachsenen Wohnzimmer aufgeräumt haben.
    Wenn die Umstände es überhaupt erlauben, sich jemals erwachsen und aufgeräumt zu verhalten auf dieser Welt.
    Sie zweifelt daran: so viel Unvermögen bei allen.
    Eigentlich ist sie dankbar, dass sie sich eine Weile so zurückziehen kann wie in den letzten Wochen.
    Daran gewöhnst du dich schnell, sagt sie zu der vor der Tür.
    Dann spürt sie, wie Benjamin langsam aufwacht. Und hört das Tropfen eines Wasserhahns nebenan im Bad. Zählt den Takt.
    Alles fließt.
    Motto ihrer ersten Band.
    Mit nichts spielen Kinder lieber als mit Wasser, denkt sie. Unendliches Planschen und Manschen.
    Ist das Spielen mit Klängen, Bildern und Worten nicht ähnlich? Ein elegantes, hochtrainiertes Mischen, Trennen und Wiederverbinden, um neue aufregend schöne und schreckliche Dinge damit zu machen?
    Plötzlich fällt ihr ein, wie sie als Kind einmal fast ertrunken ist. Es war im Urlaub mit den Eltern, ein heißer Sommertag, 1961 vielleicht. Mit einem schwarzen Autoschlauch als Schwimmreifen war sie im Wasser der Lütschetalsperre in Thüringen und konnte noch nicht schwimmen. Die Eltern mit Freunden sorglos am Ufer. So ein Schlauch ist glatt und gibt keinen Halt, zumindest nicht einem dünnen zehnjährigen Kind. Sie paddelte mutig los, keine Markierungen wie im Schwimmbad. Das Wasser machte den Schlauch noch rutschiger. Plötzlich sauste sie durch den glatten Ring in die Tiefe. Kein Grund, nichts zum Festhalten, sie fiel nach unten. Jetzt kämpft sie ums Überleben, hat es direkt vor den Augen, das verzweifelte Mobilisieren der Kräfte, die Wasserkreise, die Bewegung des Lichts über ihr, sie hört die Spaßgeräusche der Badenden dumpf von dort oben und versucht mit aller Kraft, sich dorthin zu drücken, aber sie sinkt immer tiefer. Dann packt sie jemand im Nacken, zieht sie lachend ans Licht. Sie ist wieder an Land. Ihre Kräfte waren weg im Moment der Rettung. Joachim, ein Siebzehnjähriger, den sie kannte, hatte sie gesehen, Joachim Hähnlein aus Georgenthal. Danke, denkt sie, du hast mir mein weiteres Leben geschenkt.
    Die Eltern erfuhren das nie. Sie plauderten und lachten mit ihren Freunden, als sie mit blauen Lippen und Gänsehaut zurückkam, nichts war aufgefallen. Sie schwieg aus Angst, eine Strafe zu kriegen.
    Ertrinken ist nichts für Schwächlinge, das hat sie auf alle Fälle daraus gelernt.
    Benjamin wird jetzt wach.
    Halb noch in der Erinnerung, halb beim Aufstehen, scheint es ihr so, als würde die Wohnungstür von außen geöffnet.
    »Ertrinken ist nichts für Schwächlinge«, lacht

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