Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Vorurteile ablegen, sich neuen Trends unterwerfen. Ihre Eltern mussten das immer wieder tun, nach einem Wechsel auf die Beine kommen, sich neu ausrichten. Jetzt sind sie Rentner und dürfen aus Thüringen nach Berlin-Tempelhof reisen zur Einschulung ihres Enkels, dem einzigen Kind der abtrünnigen Tochter. Auch die Schwiegereltern sind dauernd am Lernen und Umlernen, die ungarische Oma hatte sogar Westberlinerin werden wollen und es dann doch aufgegeben. Mittlerweile lebt sie wieder in Ungarn mit ihrem Mann in jahrelanger Scheidung, aber trennen tun die beiden sich trotzdem nur ungern – wenn das keine Lernleistung ist!
Während alle Gäste um den gedeckten Tisch herum Platz nehmen, beobachtet sie die Kinder, die die Geschenke testen, die gleichaltrigen Frauen und Männer, sich selbst, ihren eigenen Mann – es gibt immerzu was zu lernen, welche Lektion muss noch kommen, bis man weiß, ob man zusammenbleibt oder sich trennt?
Tempelhof jedenfalls, wo sie jetzt wohnen, die Gegend südlich der Kreuzberger Nächte, ist der Westberliner Bezirk mit der größten Apothekendichte. Das lädt ja eigentlich zum freundlichen, lebenslangen Verweilen ein.
Jedenfalls so lange, bis dem erwachsenen Kind der Himmel hier auf den Kopf fällt. Für die Schulzeit, so heißt es in der Nachbarschaft, sei diese biedere Gegend genau das Richtige.
Komische Gedanken, die einem an so einem Tag einfallen.
Das schönste Geschenk hat sich Benjamin übrigens selbst gemacht. Den Kater Oskar, der seit Neuestem bei ihnen wohnt. Mit einem Freund zusammen stand ihr Sohn neulich vor der Wohnungstür, in den Händen ein kleines Fellknäuel: »Schau mal, Mami, ich glaube, der hat gar kein Zuhause mehr. Der weiß jetzt gar nicht, wohin… «
Der Heimatlose schlug seine Krallen in den wattierten Anorak und biss, aber niedlich war er trotzdem.
Nachbarn hatten das Tier den Kindern gegeben, froh, die Brut loszusein. Sie gingen wohl nicht liebevoll mit den Kätzchen um, das haben die Kinder sofort gespürt. Hätte sie da dem neuen, liebebedürftigen Hausgenossen den Zugang verwehren sollen? Wer brächte das übers Herz? Jetzt erobert der Haustiger die Dreizimmerwohnung und polarisiert die Familie. Männer beißt er mit Vergnügen in die Zehen, den Vater besonders gern.
So wie Neil Young überzeugend gesungen hat, dass ein Mann ein Hausmädchen braucht, denkt sie, sollte mal jemand darüber singen, dass Kinder Haustiere brauchen. Gerade hier in der Stadt. Etwas zum Toben und Schmusen, auch zum Regeln Einüben und sich deshalb wie nebenbei selbst daran halten. Und sogar das Katzenklo ohne Murren säubern. Jemand sollte mal über ein Katzenklo singen, denkt sie. Dann füllt sie die Gläser für die Erwachsenen, die jetzt endlich anstoßen wollen.
Manchmal ist Oskar so überdreht, dass er an der Wand hochläuft, die Krallen fest in die Tapete bohrend. Was für eine Energie – Benjamin schüttet sich dann immer aus vor Lachen. Es gibt Leute in den Plattenfirmen, bei denen könnte sie auch so die Wände hochgehen. Oder die Frontscheiben ihrer Büros.
Ob der Kater irgendwann weglaufen wird? In der Stadt trägt man für alles immer gleich die Verantwortung, macht sich Sorgen. Damals auf dem elterlichen Hof brachten die Katzen ihre Jungen manchmal bei ihr oder den Schwestern im Bett zur Welt. Sie mussten dann die Laken abziehen, die Kätzchen ins Heu stecken, und wenn es zu viele waren, ertränkte der Vater auch schon mal ein paar, wenn es keine andere Lösung gab.
Gesehen hatten sie ihn dabei nie.
Wenn Oskar irgendwann türmen würde, sollte Benjamin auch nicht die Wahrheit erfahren. »Er ist auf Wanderschaft«, würde sie ihm erzählen.
Huch, ruft ein netter Nachbar, der mitfeiert. Er hat sich die Schluppen ausgezogen, und prompt hat ihn Oskar gebissen.
Ob er ein Pflaster braucht, fragt seine Begleiterin.
Besser schon, sagt der Nachbar kleinlaut.
Ja, ein Mann braucht ein Hausmädchen…
Sie muss grinsen. Sie hört dieses markerschütternde Au! Neulich nachts war das, aus dem Schlaf heraus, Oskar hatte die nackte Zehe von László erspäht im Schlafzimmer.
Der »Fall Pankow«
Es war an einem Samstagnachmittag Mitte Dezember 1987. Im Regionalprogramm des SFB lief gerade die Abendvorschau, es ging um ein Konzert im Quartier Latin. Da schrie László auf: »Unser Mischpult, Vroni, komm schnell, schau dir das an…, das ist unser Mischpult!« Wir hatten dafür 30.000 DDR-Mark umgetauscht, László war extra nach London geflogen, um es abzuholen. Die
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