Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Eibe hatte Reeva einen Bogen hergestellt, und dazu einfache Pfeile: Dafür schabte sie das Holz ab, zerschlug Steine für die Spitzen und befestigte einige Federn am stumpfen Schaftende. Diese Waffen, sowie ein selbstgefertigter Speer, ermöglichten ihr die Vogel- und Fischjagd. Natürlich dauerte es eine gute Weile, bis das Mädchen damit umgehen konnte; und oft, wenn sein ausgesandter Pfeil erneut weit am Ziel vorbeischwirrte oder die Fische wieder einmal schneller waren als der Speer in seiner Hand, verlor es beinahe die Geduld. Doch im Grunde war Reeva froh über den Zeitvertreib, und Zeit hatte sie reichlich; also übte sie unermüdlich, bis sie ihre erste Wildente schoss, und stand stundenlang im kalten Wasser des Flusses, bis ihr Speer den ersten Fisch durchbohrte. Natürlich nutzte sie auch noch die Fallen, die Enva einst errichtet hatte; allerdings nur jene, die weit genug von der Lichtung und somit von allen schrecklichen Erinnerungen entfernt waren.
Einmal fand sie ein besonders großes Tier in einer solchen Falle. Erst als sie sich der Stelle näherte, erkannte sie zu ihrer Überraschung, dass es eine Ziege war – verwildert zwar und abgemagert, aber doch eindeutig eines von Envas Tieren. Reeva fragte sich, wie diese Ziege es geschafft haben mochte, vor den Männern zu fliehen und bis jetzt im Wald zu überleben, doch das war unwichtig: Nun besaß sie ein Haustier, das ihre Einsamkeit zumindest ein wenig vertreiben konnte. Mit vor Freude ungeschickten Händen löste Reeva die Kordel von ihrer Taille, legte sie dem zurückschreckenden Tier um den Hals und befreite es aus der Falle.
Sofort versuchte die scheu gewordene Ziege, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Menschenwesen zu bringen, und trottete nur sehr widerwillig hinter Reeva her.
„Komm, Graufell, hab keine Angst“, lockte Reeva, und nun, da sie mit jemandem sprach, erschrak sie nicht mehr vor ihrer eigenen Stimme. „Ich werde dir einen Verschlag in meiner Höhle bauen und dich gut füttern; dafür leistest du mir Gesellschaft.“
Nach und nach gewöhnte sich das Tier wieder völlig an Reeva, und abends, wenn die letzten Vögel in ihren Nestern verschwanden und sich die Nachttiere regten, erzählte sie ihm alles, was ihr in den Sinn kam.
Der Spätsommer brachte einige letzte warme Tage, in denen Reeva oft weite Wanderungen unternahm. Längst stolperte sie nicht mehr unbeholfen durchs Unterholz, das linke Bein geräuschvoll nachziehend: Sie hatte gelernt, sich geschmeidig und leise zu bewegen. In diesem Wald war sie kein Fremdkörper, kein Eindringling mehr, sondern verschmolz nahezu mit ihm – und so gelang es ihr auch, sich bis auf wenige Schritte den Tieren zu nähern. Als sie sich einmal nur einen Steinwurf von einem Rudel Rotwild entfernt niederließ, hob das Leittier bloß aufmerksam witternd den Kopf. Dann senkte es ihn wieder, um ruhig weiterzuäsen; erst Minuten später verschwand es zwischen den Stämmen, gefolgt von den anderen Hirschkühen und den Kälbern.
Selbst den scheuen Baummarder bekam Reeva ab und zu in der Abenddämmerung zu Gesicht, wenn sie bereits auf dem Heimweg war. In weiten Sprüngen bewegte sich der schlanke Schatten durch den Wald und kletterte flink zu den Wipfeln empor, in der Hoffnung, einen verschlafenen Vogel in seinem Nest aufzustöbern.
Und dann, nicht mehr weit von der Höhle entfernt, raschelte vielleicht eine gedrungene Gestalt vorbei: Obgleich es dann meist schon dunkel war, leuchteten Reeva doch die weißen Streifen des Gesichtes entgegen, die den Dachs erkennen ließen.
Beim Beobachten der Tiere wurde Reeva klar, dass sich etwas veränderte: Viele von ihnen begannen sich durch das vermehrte Sammeln von Nahrung auf die kalte Jahreszeit vorzubereiten. Oft, wenn Reeva die Schwärme von Vögeln bemerkte, die in allen möglichen Formationen über den Himmel zogen, spürte sie das Verlangen, den Kopf in den Nacken zu legen und ihnen hinterherzurufen: „Fliegt nicht fort – ihr nehmt den Sommer mit!“ Dabei fühlte sie eine merkwürdige Angst in sich aufsteigen, von der sie nicht wusste, woher sie kam. Dieselbe Empfindung hatte sie auch, wenn sie die vielen Krähen erblickte, die nun den Platz der Singvögel einnahmen. Ihr trockenes Krächzen jagte dem Mädchen jedes Mal einen Schauer über den Rücken, als verhieße es nichts Gutes; Krähen waren, so dachte es oft bei sich, die einzigen Vögel, die es nicht mochte.
Dem Vorbild der Tiere folgend, begann Reeva nun selbst, wie besessen
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