Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
…«
Doch er wandte sich nicht einmal um. Sie lief ihm hinterher, hinaus aus dem Saal bis in den Flur.
»Nicolas!« Aufgewühlt fasste sie ihn am Arm.
Mit kalter Miene drehte er sich schließlich zu ihr. »Es gibt nichts mehr, was wir uns zu sagen hätten, Madeleine!«, sagte er ruhig und ließ sie stehen.
Erstarrt blickte sie ihm hinterher. Tränen traten ihr in die Augen. Aufgelöst lief sie an den entgegenkommenden Ballgästen vorbei und weiter in einen Seitenflur, in dem sie allein war. Sie sank auf eine der samtbezogenen Bänke und brach in Schluchzen aus. Warum hatte Nicolas sie stehen gelassen? Gerade in dem Moment, wo sie auf ihn zugehen und mit ihm reden wollte?
»Madeleine? Was ist denn passiert?« Jemand zupfte an ihrem Rock. Rémi stand ungläubig vor ihr.
»Nichts, es ist nur …« Sie brach erneut in Tränen aus.
»O nein. Es kann sich nur um einen Mann handeln«, sagte Rémi resigniert und kletterte zu ihr auf die Bank.
Sie nickte. »Will er nichts von dir?«, fragte er mitfühlend.
»Nein, nicht mehr … Dabei ist er ein Verräter. Aber ich liebe ihn.« Sie war aufgewühlt und konnte nicht aufhören zu weinen.
»Ein Verräter?«
Sie nickte und musste plötzlich mit jemandem darüber sprechen. Stockend erzählte sie Rémi alles über Nicolas. Er hörte aufmerksam zu. »Demnach glaubst du, er sei der Spion, der für die Guise und den spanischen Botschafter gearbeitet hat?«
Sie nickte. »Ja, es spricht alles dafür – und trotzdem kann ich es nicht glauben!«
»Dieser Nicolas de Vardes ist dunkelhaarig und sieht gut aus, oder?«
Sie nickte. »Ja. Wieso?«, fragte sie.
Der Zwerg war nachdenklich geworden. »Kurz bevor der Herzog d’Alava nach Madrid zurückgegangen ist, hatte er einige Male Besuch von einem Mann, der stets verhüllt kam und mit dem er sich dann allein zurückgezogen hat. Da ich sonst nie das Gemach verlassen musste, bin ich neugierig geworden …«
Er brach ab, weil man Schritte von der anderen Seite des Flures hörte. Madeleine wischte sich hastig die Tränen vom Gesicht und wandte den Kopf um. Zu ihrer Überraschung war es Philippe de Ronsard, der auf sie zukam.
»Madeleine!«, sagte er lächelnd. Sie erhob sich von der Bank, um ihn zu begrüßen. Als sie sich umdrehte und Rémi vorstellen wollte, bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, dass der Zwerg verschwunden war. Einer der schweren Samtvorhänge schwankte verdächtig.
Ronsards Blick blieb an ihren geröteten Augen hängen. »Hast du etwa geweint? Was ist mit dir?« Er legte den Arm um sie und zog sie mit sich.
Madeleine machte eine abwehrende Bewegung. »Nichts. Es ist schon wieder gut.« Sie schaute sich noch einmal um, doch Rémi blieb verschwunden.
Ronsard hatte seine Brauen hochgezogen. »Diese Hochzeit scheint niemanden richtig glücklich zu machen. Die Braut und der Bräutigam ignorieren sich, und die Gäste wirken, als würden sie sich lieber duellieren, als gemeinsam zu feiern«, meinte er spöttisch.
Sie waren den Flur zurück in Richtung des Festsaals gelaufen, von dem Stimmen und der Klang der Musik zu ihnen drangen. Er lächelte. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Komm, schenk mir einen Tanz!«
Doch sie lehnte ab. Niedergeschlagen begab sie sich zurück in ihr Gemach. Unentwegt dachte sie an Nicolas. Eine tiefe Verzweiflung erfasste sie, denn sie begriff jetzt, dass ihre kurze Begegnung ein Abschied gewesen war. Weil Nicolas nicht zugeben wollte, dass er ein Verräter war, oder weil sie ihm unrecht getan hatte? Erneut drohte sie in Tränen auszubrechen, als sie vom Flur her plötzlich aufgebrachte Stimmen hörte.
Madeleine ging eilig zur Tür.
»Ah, Gott sei Dank.« Rémi schaute sie erleichtert an. »Er wollte mich nicht reinlassen!«, sagte er und deutete dabei empört auf die Wache. »Ich muss mit dir reden!«, fügte er ernst hinzu.
Madeleine ließ ihn herein.
»Du hast recht mit deinen Befürchtungen«, platzte Rémi heraus. »Es stimmt, was du glaubst! Er ist der Mann, den ich bei dem Botschafter gesehen habe.«
Er? Madeleine blickte ihn verwirrt an und sank auf die Kante ihres Bettes. »Wen meinst du?«
Rémi schenkte ihr einen ungeduldigen Blick, als wäre sie begriffsstutzig. »Na, dieser Nicolas. Der Mann, mit dem du geredet hast. Ich habe ihn sofort erkannt. Deshalb habe ich mich versteckt!« Er trat zu ihr und zupfte sie an ihrem Rock. »Du darfst dich nicht wieder auf ihn einlassen! Er ist gefährlich«, sagte er eindringlich.
Doch Madeleine hatte seinen letzten Satz gar
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