Das Maedchengrab
sie ein Schreck: Ein Nachtfalter hatte sich in den Schuppen gewagt. Nun umkreiste er das Licht und warf Schatten an die Wand, die aussahen, als wäre eine riesige Fledermaus in die Kammer eingedrungen. Grau und grauenhaft. Fine überwand ihre Abscheu, fing den Falter beherzt ein und warf ihn hinaus.
Schnell kehrte sie in die Kammer zurück und schlug die Tür zu. Mit dem Licht wollte sie nicht noch weiteres Ungeziefer anlocken. Doch als sie ihr Mieder abstreifte, merkte sie, dass sie noch nicht schlafen konnte. Auch wenn es ihr lächerlich vorkam: Der Falter hatte ihr zugesetzt. Ihre Vorfreude auf das Leseheft war vergällt. Nun musste sie sich auf andere Weise ablenken, um zur Ruhe zu kommen.
Sie knöpfte ihr Mieder wieder zu, löschte die Lampe und ging in die warme Nacht. Wolken, die eben noch den vollen Mond verdeckt hatten, waren vorübergezogen. Fine machte sich zu einem Spaziergang auf. Sie verließ den Garten durch die hintere Pforte. Von dort aus folgte sie den kleinen Wegen zwischen den Grundstücken und traf schließlich auf die Straße, die zu den Hollerwiesen führte.
Sie nahm sich vor, die Gänse zu besuchen. Natürlich wusste sie, dass es bis auf wenige Muttertiere längst nicht mehr dieselben waren, die sie vor zwei Jahren gehütet hatte. Und trotzdem hatte sie das Bedürfnis, nach den Vögeln zu schauen.
Während sie lief, atmete sie tief die Nachtluft, in der die Düfte zahlloser Blüten standen. Sie hatte keine Angst. In dieser Nacht würde der Lohbauer ihr nicht auflauern, dessen war sie sich sicher. Sobald sie die Hollerwiesen betrat, überkam sie ein Gefühl von Frieden. Wie schön, hier im Dorf leben zu dürfen. Wie richtig, dass sie nicht nach Amerika gegangen war.
Fine erreichte den Pferch. In einiger Entfernung, um die Gänse nicht aufzuschrecken, blieb sie stehen. Die Tiere schliefen immer nur stundenweise, wie bei Tag so auch in der Nacht. Die meisten kauerten am Boden. Manche standen aufrecht und reckten ihre Hälse, als wollten sie den Mond betrachten, der ihr weißes Gefieder beschien.
Fine ging weiter zum Brunnen und setzte sich auf den Rand des ausgehöhlten Baumstumpfs. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze, an dem sie im vorletzten Sommer so manche Stunde verbracht hatte. Die Holzbirnenbäume standen unbewegt.
Wie war doch so ein Baum in der Nacht ganz anders als am Tage, dachte sie. Im Mondlicht sah er aus wie ein Riese in seinem Mantel. Kein Windhauch regte sich, und doch kam es Fine vor, als würde etwas von den Bäumen herabtropfen. Das waren wohl Raupen und Käfer, die niederfielen, sagte sie sich. Gleich darauf fiel ihr das entsetzliche Gewitter ein, der nicht enden wollende, dichte Regen. Und Basti, der zu ihr gelaufen kam, um ihr vom Mord an Bärbel zu berichten.
Mit klaren, lebendigen Sinnen erinnerte Fine sich an die Ereignisse der letzten Jahre. Und bei all dem Schlimmen, was geschehen war, gab es auch so viel Schönes. Wo mochte der fremde Reiter jetzt sein, der vor wenigen Tagen erst ihre Seele so eigentümlich berührt hatte? Er weckte eine Sehnsucht in ihr, die sie nicht kannte. Sie saß dort auf dem Brunnen und lauschte dem Gesang einer Nachtigall. Der Abendstern, der beim Sonnenuntergang entfernt und tief unter dem Mond gestanden hatte, leuchtete jetzt nah über der hellen Scheibe. Und je länger Fine den Stern ansah, umso mehr schien er zu glänzen. Spürte er wohl die Blicke von liebenden Menschen?
Gern hätte Fine wohl noch die ganze Nacht so verbracht, doch vom Wald her zog leichter Nebel auf. Eingenommen vom Rausch ihrer Sinne brachte sie doch die Vernunft auf, zu ihrer Kammer im Schuppen zurückzukehren. Doch auch auf dem Weg dorthin war sie von einem Sehnen durchdrungen, das schrankenlos schien und alles erfasste, was sie nur irgend empfinden konnte. Es fühlte sich an, als sei etwas Altes, Morsches in ihr abgestorben, und etwas Neues bahnte sich seinen Weg, das sie leben ließe bis in die Ewigkeit.
Sie ging wieder über die Wege zwischen den Grundstücken und durch die hintere Gartenpforte. Alles, was sie roch, sah, fühlte, hörte, kam ihr so eindringlich vor wie noch nie.
Fine wollte sich schon zum Schuppen wenden und den Riegel öffnen, da hielt sie inne. Was war das? Es erschien ihr, als huschte etwas Dunkles zwischen Marjanns Haus und der Straße entlang. Träumte oder wachte sie? Sah sie tatsächlich eine Gestalt in schwarzem Umhang? Sie starrte in die Nacht. Niemand war mehr zu erkennen. Vermutlich trogen ihre Sinne sie.
Bevor sie ihre
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