Das Maedchengrab
Kammer betrat, sah Fine noch einmal in den Himmel. Mond und Abendstern glänzten über dem Schuppen.
Der Verdacht
Dem Vollmond folgten heiße Tage, die frühen Obstsorten reiften rasch heran. In den Gärten des Oberlandhofes hatten die Mägde alle Hände voll damit zu tun, die Ernte unter Dach und Fach zu bringen. Denn die Früchte sollten nicht an den Stängeln verfaulen.
An einem Freitag im Juni beauftragte die Oberlandbäuerin ihre Jungmagd Fine damit, rote Johannisbeeren zu pflücken. Die Bäuerin bereitete daraus Sirup und Wein und tat sich so auch im Winter an ihren Lieblingsfrüchten gütlich.
Bestückt mit vier Körben und einem Schemel ging Fine in den hinteren Teil des Gartens, wo sorgfältig aufgereiht die Sträucher mit den leuchtend roten Beeren standen. Schon der frühe Morgen war unerwartet heiß gewesen, und nun ging es auf Mittag zu. Vorsichtig, um sich die Hände nicht an den Zweigen aufzureißen, pflückte Fine Rispe um Rispe und legte sie sorgfältig in den Korb. Ab und zu wanderten ein paar Früchte in ihren Mund, denn dies gestattete die Oberlandbäuerin ihren Mägden gern.
Als es vom Kirchturm zwölf Uhr schlug, überkam Fine eine plötzliche Müdigkeit. Gerade war sie dabei, die unteren Zweige eines Strauches abzupflücken. Sie musste sich mühen, nicht einzuschlafen. Vor ihren Augen verschwammen Beeren und Blätter. Für einen Moment schloss sie die Lider und sprach sich gut zu. Wenn sie die Früchte bis zum Nachmittag erntete, gäbe die Bäuerin ihr für den übrigen Tag sicher eine leichtere Arbeit.
Sie stand vom Schemel auf und streckte den Rücken. Ihr Blick schweifte hinüber zum Wald, der gleich hinter dem Beerengarten begann. Vor stahlblauem Grund stand hoch die Sonne, und es fühlte sich an, als würden noch heißere Tage folgen.
Beherzt befreite Fine nun auch den oberen Teil der Zweige von deren roter Last, dann stellte sie den Schemel an den nächsten Strauch. Bevor sie sich wieder setzte, lauschte sie dem leisen Rascheln der Blätter. Wie friedlich alles war, dachte sie.
Da!
Fine schreckte auf. Was war das? Ein hoher, gellender Schrei drang aus dem Wald, und gleich darauf der nächste. Jemand war in höchster Not!
Fine stürmte los.
Nicht weit vom Waldrand floss ein Bach, in dem Forellen schwammen. Der Oberlandbauer wollte an diesem Tag noch Gäste bewirten. Von einer Ahnung getrieben rannte Fine zu der Stelle, an der die Fische sich am leichtesten fangen ließen. Während sie sich zwischen den dicht stehenden Bäumen durchs Gestrüpp kämpfte, hörte sie laute Hilferufe. Doch nun war es nicht dieselbe Stimme wie noch eben. Es kam Fine vor, als würde sie den Rufenden kennen. Sie stutzte. Konnte das denn sein? Täuschte sie sich? Wieder und wieder vernahm sie die Rufe, und je näher sie dem Forellenbach kam, umso sicherer wurde sie: Der da so klagend um Hilfe rief, war niemand anderes als ihr Bruder Basti!
Außer Atem erreichte sie die letzte Baumreihe und schrie auf vor dem Bild, das sich ihr bot: Ulla lag ausgestreckt auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen, den Kopf nach hinten geneigt auf dem schmalen Abhang des Bachbetts. Unter ihrem Kinn klaffte eine riesige Wunde, aus der das Blut hinabrann ins Wasser. Ein Fischernetz an einem langen Stiel trieb eingeklemmt zwischen zwei Steinen im Strudel der kleinen Wellen.
Neben Ulla kniete Basti. Als er seine Schwester sah, lief er ihr entgegen. »Komm nicht näher, Fine! Schau nicht hin! Wir können nichts mehr tun!«
Vor Angst und Schrecken blieb Fine stehen. Nun bemerkte sie neben Basti eine große Weidenkiepe. Offenbar hatte er sie hastig abgeworfen, Holzscheite lagen verstreut am Boden. Er rannte auf Fine zu und wollte sie in den Arm nehmen, da stürmten drei weitere Menschen heran: Der Oberlandbauer, die Großmagd und Alex, der stärkste Knecht auf dem Hof. Er maß mehr als sechs Ellen, seine Schultern waren breit wie von zwei gewöhnlichen Männern, und wo er zupackte, gelang jede Arbeit. Kaum hatte Alex die tote Ulla erblickt, machte er einen Satz auf Basti zu, riss ihn von Fine fort und überwältigte ihn. Blitzschnell griff er in Bastis Hosentasche und holte ein Taschenmesser hervor. Mit einem Arm hielt er den Jungen wie in einem Schraubstock gefangen, derweil zog seine freie Hand das Messer auf. Eine blanke, spitz zulaufende Klinge kam zutage.
Fine starrte fassungslos auf das Metall. Noch begriff sie nicht, was sich hier abspielte.
Alex klappte das Messer wieder zusammen und steckte es in seine eigene
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