Das Magische Messer
schützen. Daneben parkte ein weißer Ford Transit ohne Kennzeichen mit getönten Scheiben.
Sie durfte jetzt nicht zögern. Geradewegs ging sie auf das Zelt zu. Als sie es fast erreicht hatte, schwang die Tür des Lieferwagens auf und ein Polizist stieg aus. Die Straßenlaterne unter dem dichten grünen Blätterdach schien ihm direkt ins Gesicht und ohne seine Mütze sah er sehr jung aus.
»Darf ich fragen, wohin Sie wollen, Madame?«
»In das Zelt.«
»Das dürfen Sie leider nicht, Madame. Ich habe Befehl, niemanden in die Nähe zu lassen.«
»Gut«, sagte sie, »ich bin froh, dass man es jetzt bewachen lässt. Aber ich komme von der physikalischen Fakultät – Sir Charles Latrom bat uns, die Sache schon mal anzusehen und ihm zu berichten, bevor sie dann gründlich untersucht wird. Und ich würde das gerne jetzt tun, solange hier noch nicht so viel los ist – Sie verstehen doch.«
»Doch, ja«, sagte er. »Aber können Sie sich irgendwie aus weisen?«
»Natürlich.« Sie setzte den Rucksack ab und holte ihre Brieftasche heraus. Unter den Dingen, die sie aus der Schub lade im Labor genommen hatte, war auch ein abgelaufener Bibliotheksausweis von Oliver Payne. Nach viertelstündiger Arbeit an ihrem Küchentisch hatte sie mit Hilfe des Fotos aus ihrem Pass etwas zustande gebracht, das hoffentlich echt aus sah. Der Polizist nahm die Plastikkarte und hielt sie sich vor die Augen.
»Dr. Olive Payne«, las er. »Kennen Sie zufällig eine Dr. Mary Malone?«
»Natürlich, sie ist eine Kollegin von mir.«
»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«
»Zu Hause im Bett, wenn sie vernünftig ist. Warum?« »Hm, soviel ich weiß, arbeitet sie nicht mehr an Ihrer Fakultät, und ich dürfte sie hier nicht durchlassen. Wir haben sogar Befehl, sie festzunehmen, wenn sie es versucht. Und als ich jetzt Sie sah, dachte ich natürlich, Sie seien womöglich diese Frau, wenn Sie verstehen, was ich meine. Entschuldigen Sie bitte, Dr. Payne.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Mary Malone.
Der Polizist warf einen letzten Blick auf die Karte. »Scheint in Ordnung«, sagte er und gab sie ihr zurück. Er war nervös und redselig. »Wissen Sie denn, was unter diesem Zelt ist?«
»Nicht aus erster Hand«, sagte sie. »Deshalb bin ich ja hier.«
»Ja, richtig. Bitte sehr, Dr. Payne.«
Er trat zurück, und sie band den Eingang des Zelts auf. Sie hoffte, dass er nicht sah, wie ihre Hände zitterten. Den Ruck sack an die Brust gedrückt, trat sie ein. Überliste den Wächter – das hatte sie getan; aber sie hatte keine Ahnung, was sie im Zelt vorfinden würde. Für eine archäologische Grabung, eine Leiche oder einen Meteoriten wäre sie gewappnet gewesen, doch nichts in ihrem Leben oder ihren Träumen hatte sie auf das ungefähr einen Quadratmeter große Fenster in der Luft vorbereitet und auf die schlafende Stadt am Meer, in der sie stand, nachdem sie durch das Fenster gestiegen war.
Æsahaettr
Als der Mond aufging, begannen die Hexen mit der Zubereitung der Zaubersalbe für Wills Hand.
Sie weckten ihn und sagten, er solle das Messer so auf den Boden legen, dass es das glitzernde Licht der Sterne einfing. Lyra rührte verschiedene Kräuter in einen Topf mit kochen dem Wasser über dem Feuer, und Serafina beugte sich zum rhythmischen Klatschen, Stampfen und Schreien ihrer Gefährtinnen über das Messer und sang mit hoher, schriller Stimme:
»Kleines Messer! Mit Gewalt
rissen sie dein funkelnd Eisen
aus der Mutter Erde Schoß,
schmolzen es in heißer Glut,
bis es blut’ge Tränen schwitzte,
härteten’s mit Hammerschlägen,
stürzten es ins kalte Wasser,
stießen’s in die heiße Esse,
bis die Klinge blutrot glühte!
Schlugen dich durch kaltes Wasser
einmal, zweimal, immer wieder,
bis das Wasser sprudelnd dampfte
und in Not um Gnade schrie.
Als du dann den einen Schatten
leicht in dreißigtausend teiltest,
wussten sie, du warst jetzt fertig,
und wurdest Magisches Messer genannt.
Kleines Messer, was hast du getan?
Hast entfesselt blutige Ströme!
Kleines Messer, deine Mutter
ruft dich aus der Erde Schoß,
aus den tiefsten und geheimsten
Schlünden, wo sie dich gebar.
Höre!«
Serafina schloss sich dem Stampfen und Klatschen der anderen Hexen an, und ihren Kehlen entstieg ein wildes Geheul, das die Luft zerriss wie tausend Krallen. Will, der in ihrer Mitte saß, erschauerte.
Dann nahm Serafina Pekkala seine verwundete Hand in ihre Hände. Als sie wieder zu singen begann,
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