Das Monster von Moskau
und fand heraus, dass die Stimme des alten Mannes leicht verzweifelt klang.
Auch Karina sagte etwas. Sie bewegte dabei ihre Hände, deutete in die Umgebung, und als sie sich kurz umdrehte, da glaubte ich, die Verzweiflung in ihrem Gesicht zu sehen.
Sie gab Valentin einen Wink und kam zu mir. Auf der Treppe stehend schloss Karina für einen Moment die Augen, bevor sie sagte: »Ich habe es geahnt.«
»Was?«
»Wanja ist weg!«
Ich schwieg und presste sogar die Lippen zusammen. Eine übergroße Überraschung war es für mich nicht, denn das Verhalten des alten Mannes hatte bereits darauf hingedeutet.
»Wie konnte es passieren?«
Karina hob die Schultern an. »Gute Frage, John. Er hat sie nicht mehr halten können. Sie wollte weg.«
»Hat sie gesagt, wohin sie gegangen ist?«
»Nein. Aber sie wollte nicht mehr bleiben. Und Valentin war auch nicht in der Lage, sie aufzuhalten. Mein Gott, er ist ein alter Mann, und das Kind ist flink. Ich weiß auch nicht, was es dazu getrieben hat, zu verschwinden.«
»Möglicherweise hat sie eine Nachricht aus dem Zwischenreich bekommen.«
»Ach, von ihrem Großvater?«
»Man muss mit allem rechnen. Es kann auch sein, dass ihr erst jetzt richtig zu Bewusstsein gekommen ist, in welcher Lage sie sich befand. Dagegen wollte Wanja etwas unternehmen. Wir können uns nicht in sie hineinversetzen, denke ich.«
Karina nickte. »So sehe ich das auch. Nur würde mich interessieren, wohin sie gelaufen sein könnte.«
»Hast du Valentin gefragt?«
»Ja. Er weiß die Antwort auch nicht. Außerdem ist er zu sehr durcheinander. Er hatte gedacht, dass alles in Ordnung kommen würde, aber jetzt musste er zusehen, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil. Die Probleme sind größer geworden.«
»Ich könnte mir schon ein Ziel vorstellen.«
»Und welches?«
»Die Kirche, Karina.«
Sie schloss kurz die Augen und flüsterte: »Das habe ich fast befürchtet, John. Aber ich stimme dir zu. Auch ich habe mit dem Gedanken gespielt, dass sie zur Kirche laufen wird, wo sich die Geister der Toten oder die Toten selbst versammeln werden.« Sie stöhnte auf und schüttelte den Kopf. »Es bringt sie in Schwierigkeiten. Wenn Kozak erscheint, wird er keine Gnade kennen.«
»Daran denkt sie nicht. Sie wird sich darauf konzentrieren, ihren Großvater zu finden. Egal, in welch einem Zustand er sich befindet. Nur von ihm wird sie Hilfe erwarten.«
»Gut«, sagte ich mit leiser Stimme. »Dann ist es für uns umso wichtiger, ebenfalls dorthin zu gehen.«
»Das meine ich auch. Allerdings ist die Zeit noch nicht gekommen. Sie warten die Dunkelheit ab, bevor sie ihre Gräber verlassen und...«
»Moment mal. Wenn das so ist, sollten wir sie dabei beobachten.«
»Du meinst auf dem Friedhof?«
»Nicht schlecht«, murmelte sie. »Der Friedhof und die Kirche liegen nicht weit voneinander entfernt.«
»Eben.«
Karina schnickte mit den Fingern. Sie war wieder so, wie ich sie kannte. Das schlechte Gefühl hatte sie abgeschüttelt, denn sie sah wieder einen Streifen am Horizont.
»Ich werde vorher noch mit Valentin sprechen und ihn warnen. Ich habe nämlich den Eindruck, dass er sich schuldig fühlt und deshalb irgendetwas unternehmen will, das unter Umständen völlig falsch sein könnte.«
»Ja, tu das.«
Ich blieb auf der Treppe stehen, während Karina mit dem alten Valentin sprach. Sie schob ihn dabei zurück in sein Haus. Ich blieb allein und fühlte mich auch so.
Durch meinen leicht erhöhten Standort gelang mir auch ein entsprechender Überblick. Mein Blick streifte durch den Ort, über den sich die Decke der Stille ausgebreitet hatte.
Nichts war zu hören. Niemand rief oder sprach mit lauter Stimme. Eine fremde Macht schien den Ort im Griff zu haben und jede Stimme zu ersticken. Ich hörte auch keine fahrenden Autos. Es schien sie gar nicht zu geben, dafür einen Himmel, der so grau und bedrückend war und sich noch tiefer gesenkt hatte.
Hinzu hatte sich auch der feine Dunst gesenkt, der von irgendwoher aufgestiegen war. Er bildete dünne Wolken, die träge auf den Ort zuflossen, um sich dort zu verteilen. Ich rechnete damit, dass die Masse noch zunehmen würde, wenn es dunkler und feuchter wurde. Für das Erscheinen der Geister gerade richtig.
Der Ort starb einen bestimmten Tod. Er glitt hinein in die Lethargie. Es war die Karwoche, die Tage vor dem Osterfest, und die Menschen hier wussten, was passieren würde. Für sie waren die alten Legenden lebendig geworden.
Der Wind hatte an Schärfe
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