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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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besänftigende Tonfall ihrer Mutter. Sie öffnete die Tür einen Spalt.
    ». dummen Anschuldigungen«, sagte ihre Mutter. »Du sagst solche Dinge nur, wenn du in diesem Zustand bist, morgen tun sie dir dann leid.«
    »Hör damit auf, mich um Schläge anzubetteln, Laura! Glaubst du, ich weiß nicht, was mit dir los ist? Du möch­test, daß ich dich schlage. Da kannst du dir dann richtig gut und gerechtfertigt vorkommen – damit du wieder mit deinem naturliebenden Freund abhauen kannst …«
    Ihre Mutter schrie auf. Mit einem Stöhnen kam Susie aus ihrem Schlafzimmer und lief zum Treppenabsatz.
    »Hör auf!« schrie sie. »Hör auf!«
    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann er­schien er, noch immer im Mantel, einen weißen Seidenschal lose um seinen Stiernacken geschlungen. Sein großes, rotes Gesicht war erregt und die dünnen, grauen Haarsträhnen auf seinem Kopf zerzaust. Er schaute herauf und grinste.
    »Ah, die kleine Miss Bringtsinordnung ist also wach?« sagte er mit schwerer Zunge. »Geh wieder ins Bett, Susie, das hier ist eine Party für Erwachsene.«
    »Laß sie in Frieden! Laß meine Mutter in Frieden!«
    Er stampfte donnernd mit dem Fuß auf die erste Trep­penstufe und tat so, als wolle er auf sie losstürzen. Als Susie sich panikartig umdrehte und in das Schlafzimmer zurückhastete, lachte er.
    Drinnen warf sie sich auf das Bett und zog sich die Kis­sen über den Kopf.
    »Das wird dir leid tun«, murmelte sie mit zitternder Stimme, die Zähne so fest aufeinandergepreßt, daß es wehtat. »Es wird dir leid tun, wenn ich tot bin …«
    Damit hatte sie sich das Stichwort für die Wachträume dieses Abends gegeben. Sie sah die Szene ganz klar vor sich, so als erschiene sie auf einem Fernsehschirm. Ihre Mutter, tragisch schön in Schwarz, ungezügelt schluch­zend vor einem rührend kleinen Sarg. Bella, das Haus­mädchen, schmerzgebeugt, Vergebung von dem stillen, toten Kind erflehend. Dahinter ihre Schulfreundinnen, schluchzend und schniefend, insgeheim neidisch. Und der Wichtigste von allen, Mr. Grayson, ihr Stiefvater, zitternd und bleich, wieder und wieder sich selbst verdammend: »Was hab ich getan? Was hab ich nur getan? Es ist meine Schuld, alles meine Schuld …«
    Im allgemeinen glitt Susie leicht aus ihren abendlichen Phantasievorstellungen in den Schlaf hinüber. Heute aber blieb sie wach, zu tief bewegt von ihrer eigenen Beerdi­gung. Der Tod war eine abstrakte, erwachsene Sache, heu­te aber dachte Susie an den Tod – und der Gedanke war süß. »Es wird ihm leid tun«, flüsterte sie. »Es wird allen leid tun …«
    Getröstet von diesem Gedanken, schlief sie ein.
    Der nächste Tag war ein Sonnabend. Sie verbrachte den verregneten Vormittag in der Geheimecke der Dachkam­mer und verfaßte schön formulierte Abschiedsbriefe. Schließlich entschied sie sich für einen, der kurz war und ohne Umschweife. Sie würde bei Einbruch der Dämme­rung das Haus verlassen und langsam den Pfad zum Fluß hinuntergehen, der sich etwa einen Kilometer von der Elm Avenue dahinschlängelte. Und dann .
    Sie klemmte den Brief unter das Zierdeckchen auf ihrer Frisierkommode und ging hinunter, um einen letzten Blick auf ihre Mutter zu werfen.
    Aber sie war nicht da. Sie fand Bella in ihrem Zimmer und erfuhr, daß ihre Mutter in die Stadt gegangen war, um irgendeine Besorgung zu machen. Bella zog sich auch um, denn es waren ihre anderthalb freien Tage und sie wollte mit dem Vieruhrzug in die Stadt fahren. »Du wirst aber trotzdem nicht allein sein«, sagte Bella gehässig. »Dein Vater ist in seinem Arbeitszimmer.«
    »Er ist nicht mein Vater«, sagte Susie.
    Als das Mädchen ging und sie mit Mr. Grayson allein im Haus war, verspürte Susie eine seltsame Ruhe. Sie fürchte­te sich nicht mehr vor ihm; es gab nichts, womit er sie jetzt noch verletzen konnte.
    Als es sechs wurde, fing sie an, sich Sorgen zu machen. Wenn es noch viel später würde, könnte sie ihren Plan nicht mehr ausführen. Sie würde keinen Vorwand mehr finden können, um das Haus nach Einbruch der Dunkelheit zu ver­lassen. Sie müßte bald gehen, jetzt gleich. Sie würde halt darauf verzichten müssen, ihre Mutter noch einmal zu sehen.
    Sie ging die Treppe hinauf und hörte hinter sich die Stimme ihres Stiefvaters.
    »Susie?«
    Sie drehte sich um und sah ihn an. Er trug eine schwarze, rot paspelierte Hausjoppe aus Samt und eine kleine, rand­lose Brille, was ihn alt und harmlos aussehen ließ.
    »Susie, es tut mir leid, was gestern

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