Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
seinem Karren, um sich auf den
Rückweg in sein Dorf zu machen, wo Frau und Kinder auf ihn warteten.
Auch der jüdische Arzt verabschiedete sich und ritt auf
seinem Maultier davon, nachdem Conrad ihn ausgezahlt hatte. Er ließ eine
Tinktur da, von der Line jeden Tag ein wenig trinken sollte.
Die Männer trugen Line ins Haus, wo in einer Kammer bereits
ein großer Holzzuber bereit stand, der von Eva und einer älteren Magd mit
Wasser gefüllt wurde.
„Ist es ansteckend?“, fragte Matthes etwas besorgt, als er
in das erschreckend blasse Gesicht der jungen Frau sah.
„Keine Sorge“, sagte Conrad und setzte sarkastisch hinzu:
„Ein Gefängnisaufenthalt und eine anschließende Hinrichtung ist ganz sicher nicht
ansteckend.“
Matthes machte große Augen, erwiderte aber nichts.
Nachdem die Frauen das apathische Mädchen von ihren Schmutz
starrenden Kleidern befreit hatten, halfen sie ihr in den Zuber und legten ihr
ein Kissen in den Nacken.
Willenlos ließ Line alles mit sich geschehen, ihr Blick
starrte ins Leere, sie schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Aber ein
seliges Lächeln spielte um ihren blassen Mund. Sie schien zu begreifen, dass
man ihr nichts Böses wollte und dass sie in Sicherheit war.
Sie hatte einen Hautausschlag an den Schenkeln, der
allerdings bereits beim Abheilen war. Andere äußere Verletzungen konnten die
beiden Frauen nicht feststellen.
Was das arme Mädchen allerdings an seelischen Qualen
durchgemacht hatte, wollten sie sich lieber gar nicht ausmalen. Es war
allgemein bekannt, dass die ‚Behandlung’ in den Gefängnissen nicht gerade
zimperlich war.
Während die Frauen im Nebenraum beschäftigt waren, stellte
Conrad seine Freunde gegenseitig vor.
„Das ist Li Chan“, sagte er an Matthes gewandt, „mein
chinesischer Freund, ohne den ich nicht hier wäre, sondern noch immer in einem
Kerker schmoren würde.“
Matthes nickte dem kleinen Mann freundlich zu, der den Gruß
erwiderte. „Und das ist Matthes, mein Freund aus Jugendtagen und Hüter vieler
Jugendsünden.“
„Sehl erfleut“, sagte Li Chan mit seiner hohen Fistelstimme
und einem breiten Lächeln.
Conrad rollte mit den Augen. Manchmal konnte sein kleiner
Freund wirklich nervig sein.
Matthes warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er sagte
nichts und Conrad tat, als bemerke er den Blick nicht.
Die Mühle war geräumig und warm. Der Geruch nach Holz und
Mehl erinnerte Conrad an alte Zeiten.
Das erste Mal war er auf die Mühle gestoßen, als er zusammen
mit Oswald in einen Sturm geraten war. Sie waren auf dem Rückweg von einem
Ausritt und hatten sich in den dichten Wäldern hoffnungslos verirrt. Zufällig
waren sie auf die Wiese mit dem Flüsschen und der Mühle gestoßen, wo sie
Unterschlupf vor dem Unwetter fanden. Mit dem Müllersohn hatte er sich sofort
gut verstanden. Seitdem hatte er die Mühle öfter aufgesucht und es entstand
eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Jungen.
*
Als Line erwachte, fand sie sich auf einem Strohsack wieder,
unter einer warmen Decke, mit einem Leinenhemd bekleidet. Verwirrt sah sie sich
um. Sie befand sich in einer sauberen Kammer, mit einem richtigen Bett, einer
Truhe und einem Stuhl.
Sie hatte geschlafen und das erste Mal seit dem
schrecklichen Ereignis im Hause des Tuchhändlers hatten sie keine düsteren Alpträume
gequält.
Durch ein Fenster sah sie ein Stück von einer grünen Wiese,
teilweise mit Schnee bedeckt, über der sich der blaue Himmel dehnte, mit weißen
Wolken bestückt. Fast glaubte sie, noch zu träumen.
Ein gleichmäßiges, dumpfes Geräusch drang von irgendwoher an
ihr Ohr, das sie nicht einordnen konnte. Gleichzeitig war ein leichtes
Vibrieren zu spüren, das sich über die Holzdielen zu übertragen schien.
Line wusste weder wo sie sich befand, noch was passiert war.
Aber sie fühlte eine Geborgenheit wie schon lange nicht mehr. Sie war nicht
mehr im Kerker. Und sie lebte. Außerdem hatte sie von Conrad geträumt, so
intensiv, als hätte er neben ihr gestanden.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Der Kopf tat ihr weh und
ihre Lunge schmerzte bei jedem Atemzug, als wären ihre Rippen von eisernen
Ringen eingeengt. Doch wenn sie langsam und gleichmäßig atmete, ging es und sie
fühlte sich sogar kräftig genug, aufzustehen. Mit unsicheren Schritten ging sie
zum Fenster und schaute hinaus. Sie sah einen kleinen Fluss, der die Wiese
teilte und Baumwipfel, die sich im seichten Wind
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