Das Orakel von Margyle
Und du würdest nichts von der drohenden Gefahr wissen!”
“Songrid?” Maura setzte sich auf und griff nach einem Kleidungsstück von Rath, um sich zu bedecken.
“Diese hanische Frau ist ganz klar eine Spionin.” Idrygon schüttelte die Hand seines Bruders ab. “Sie benutzte euch, um unsere Streitkräfte zu infiltrieren.”
“Blödsinn!”, schrie Delyon.
So heftig hatte Maura ihn noch nie seinem Bruder widersprechen hören. Wusste er nicht mehr, wie sehr er selbst Songrid zu Anfang misstraut hatte?
Ein wütender Blick von Idrygon schüchterte ihn ein wenig ein, denn er fuhr in weniger feindseligem Ton fort: “Ich sage dir, diese Frau hatte keine Ahnung, wer wir waren. Sie half uns, aus dieser Wachstation zu flüchten, und brachte uns durchs Gebirge. Maura und ich verdanken ihr unser Leben.”
“Warum sollte sie ihrem Volk den Rücken kehren”, knurrte Idrygon, “um ihren Feinden zu helfen?”
Während die Brüder zu sehr mit ihrem Streit beschäftigt waren, um ihnen Beachtung zu schenken, schlüpften Maura und Rath in ihre Kleider. Dann mischten sie sich in den Streit ein.
“Die Umbrianer sind nicht die Einzigen, die hanische Unterdrückung kennengelernt haben.” Maura stellte sich neben Delyon. “Außerdem versprachen wir, für sie zu bürgen und ihre Sicherheit zu garantieren. Stellt Songrid unter Bewachung, wenn Ihr glaubt, dass sie eine Bedrohung ist, aber tötet sie nicht auf Euren bloßen Verdacht hin!”
Idrygon sah von seinem Bruder zu Maura. Seine Oberlippe zitterte, als hätte er Mühe, sie nicht höhnisch anzugrinsen. Dann wandte er sich an Rath. “Was sagt Ihr, Hoheit? Erinnert Ihr Euch an das Gemetzel in der Mine? Die Han hatten mit jenen Männern kein Erbarmen. Warum sollten wir Erbarmen mit jemandem von ihnen haben?”
Welches Gemetzel in welcher Mine, fragte sich Maura, als sie sah, wie Raths Gesicht sich verfinsterte.
“Bitte”, flehte sie ihn an. “Ich gab mein Wort. Nicht alle Han sind schlecht, genauso wenig, wie alle Umbrianer gut sind!”
Idrygon schlug mit der Faust in seine Hand. “Und ich sage Euch, diese Frau ist eine Bedrohung!”
“Genug!” Rath hielt sich die Ohren zu und funkelte alle drei wütend an.
Als sie erschrocken schwiegen, murmelte er: “So ist es besser. Will mir jetzt vielleicht jemand erklären, worüber hier gestritten wird? Über irgendeine hanische Frau, nehme ich an.”
Als Idrygon den Mund öffnete, deutete Rath auf Maura. “Lasst zuerst meine Frau sprechen.”
Maura machte sich Sorgen, was Songrid zustoßen mochte, während sie hier stritten, und so erklärte sie die Situation so schnell sie konnte. Erst letzte Nacht hatten sie sich versprochen, einander beizustehen. Doch sein Stirnrunzeln verstärkte sich und in seinen Augen entdeckte sie einen Funken Furcht. Wie konnte er nur glauben, dass sie etwas von einer Frau zu befürchten hatten, die inzwischen verrückt vor Angst sein musste?
“Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe”, sagte Maura, “würdest du nicht an ihr zweifeln. Die vornehmsten Frauen der Han sind auf ihre Weise genauso unterdrückt wie jeder Umbrianer. Sie sind kaum mehr als Zuchtstuten und werden auch nicht besser behandelt! Wenn ich an Songrids Stelle gewesen wäre, hätte ich hoffentlich den Mut gehabt zu tun, was sie tat.”
Nachdem Rath nicht gerade mitfühlend dreinschaute, fügte Delyon hinzu: “Wir sollten die Frau belohnen, nicht töten.”
“Idrygon”, sagte Rath endlich, “Ihr glaubt also, diese hanische Frau stellt eine Bedrohung dar?”
“Ist das nicht offensichtlich, Sire? Kein Han würde handeln, wie diese Frau es getan hat, außer es ginge dabei um irgendeine Verschwörung. Vielleicht will sie unsere Truppenstärke herausfinden oder unsere Pläne und sich dann mit diesen Informationen zu ihrem eigenen Volk zurückschleichen.”
“Gerade so, wie ich es jüngst in Venard getan habe”, warf Maura ein.
Idrygon schien einen Augenblick lang überrascht, dann nickte er. “Und wenn die Han Euch erwischt hätten, hättet Ihr Euch glücklich schätzen können, möglichst rasch hingerichtet zu werden.”
Maura konnte dem nicht widersprechen. Doch genauso wenig konnte sie eine Frau verraten, die für sie und Delyon ihr Leben riskiert hatte.
“Wir sind keine Han.” Rath runzelte die Stirn, als bereute er die Entscheidung, die er gezwungenermaßen treffen musste. “Nicht wahr, Maura?”
Sie nickte. Gerade hatten sie den Bruch in ihrer Beziehung gekittet. Was sollte sie tun, wenn
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