Das Prinzip Uli Hoeneß
dauert sie eine gewisse Zeit, außerdem müssen die Phasen der Gruppenbildung neu durchlaufen werden.
Hoeneß mochte zwar nicht ausschließen, dass auch beim FC Bayern eines Tages ein Kommen und Gehen herrschen könnte. Aber wenn das eintreffen würde, wäre das nicht mehr seine Welt. Vorläufig konnte er nur weiter konsequent an einer nachhaltigen Transferpolitik arbeiten und versuchen, vielversprechende Spieler durch möglichst langfristige Verträge an den Verein zu binden. Empört und entsetzt war er, als Anfang 2008 durch das so genannte Webster-Urteil der gefürchteten Söldnermentalität unter den Profis neue Türen geöffnet wurden. Nach dem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofes sollten Fußballprofis nun nach einer geschützten Laufzeit von zwei bis drei Jahren einen Vertrag einseitig lösen können, sofern die Ablösesumme den restlichen Gehaltszahlungen gleichkommt. »Die Vereine werden überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen«, ereiferte sich der Bayern-Manager über diese Unterhöhlung des Vertragsgedankens. Verträge würden zum Muster ohne Wert. Und je mehr die Fluktuation zunehme, desto weniger bleibe Zeit, eine Fußballmannschaft zu entwickeln und reifen zu lassen.
Die angestrebte hohe Verweildauer der Spieler im Bayern-Kader sollte neben den positiven sportlichen Effekten zudem den wichtigen Nebeneffekt eines verbesserten Betriebsklimas zeitigen. »Wir wollen den Spielern väterlicher Freund sein, und das geht nur mit Kontinuität«, begründete Hoeneß sein Ausnahmemodell in der herzlos-geschäftigen Welt des Spitzenfußballs. Seine Absicht war von Anfang an, die Identifikation, die er selber und die führenden Familienmitglieder mitbrachten, möglichst auf alle Spieler zu übertragen. Die Idee, im Geiste seiner eigenen Bayern-Seele eine möglichst kohärente Solidargemeinschaft heranzüchten, war das unerschütterliche Leitmotiv allen Hoeneß’schen Handelns. Deswegen suchte er immer eine größtmögliche Nähe zu Spielern, deswegen trat er unentwegt als strenger, aber verständnisvoller Pädagoge auf, deswegen bemühte er sich um ein dem Neid vorbeugendes möglichst flaches Gehaltsgefälle in jedem Kader, deswegen umhegte er angeschlagene Familien-Mitglieder als verlässlicher und treusorgender Paterfamilias.
Das Geld, so eine der Grundüberzeugungen von Uli Hoeneß, dürfe den Fußball nie dominieren. »Es geht nach wie vor um diesen Sport, und er wird von Menschen betrieben, die keine großen Leistungen bringen würden, wenn sie nicht auch Liebe zu dieser Sache hätten.« Nur die im Verein voll integrierten Spieler, so seine Erfahrung, brachten volles Engagement und waren gefeit vor der Versuchung, für ein paar Euro mehr weiterzuziehen. In gewisser Weise ist das Ideal der Altvorderen, als noch elf Freunde in lebenslanger Vereinstreue nur aus Leidenschaft Fußball spielten, das Ideal des Uli Hoeneß geblieben. Manchmal sah er es erreicht. »Dass wir der Verein sind, wir alle«, meinte er etwa Mitte der achtziger Jahre der Mannschaft erfolgreich vermittelt zu haben, und dies sei ein »sehr angenehmes Gefühl«. Hoeneß gelang es immer wieder, diesen Zustand der Zufriedenheit zu erneuern; wenn die Spieler es allerdings nicht zu schätzen wussten, Träger des Bayern-Trikots zu sein, haute er oft genug kräftig dazwischen. Sie müssten »akzeptieren, dass sie Verantwortung für den FC Bayern mitzutragen haben«, wies er alle paar Monate auf die wesentlichste charakterliche Anforderung für einen Bayern-Profi hin – nämlich die, sich in erster Linie als Diener des Vereins zu empfinden. »Viele Spieler machen sich keine Gedanken ums Ganze, sondern nur noch um sich selbst«, monierte er vor allem in den neunziger Jahren wiederholt und mahnte: »Der Verfall der Werte wird voranschreiten, wenn es uns nicht gelingt, die Einzelnen wieder dazu zu bringen, für das Ganze zu denken.«
Leider blieben die meisten Bayern-Spieler geldgierig und egoistisch, wie Uli Hoeneß feststellen musste. Und leider sah er sich selbst, zumal in Zeiten einer Bayern-Krise, immer wieder zu hektischen Umgestaltungen des Kaders genötigt, so dass die angestrebte Kontinuität in immer weniger Fällen realisiert werden konnte. »Die Werte kommen zurück«, machte er sich zwischenzeitlich Mut – um dann gleich wieder eine Fehldiagnose einzugestehen und in die übliche Klage über mangelnden Gemeinschaftssinn zurückzufallen und entsprechend auffällig gewordene Spieler mit der Entlassung zu bedrohen. Oliver Kahn,
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