Das Salz der Mörder
zu, den ich in Zukunft noch
einmal ohne sein blaues Halstuch in unserer Schule antreffe. Wahrscheinlich
verstehen einige von euch den Sinn und den Zweck unserer Jugendorganisation
nicht, die sich ehrfurchtsvoll den Namen unseres von den Faschisten im KZ
Buchenwald brutal ermordeten Arbeiterführer und Antifaschisten Ernst Thälmann
auswählte - nicht grundlos auswählte. Ich werde euch über die enorme Bedeutung
Ernst Thälmanns belehren. Dadurch wird sich euer Respekt und eure Ehrfurcht zu
dem heldenhaften Kommunisten Thälmann und dem Mitbegründer – ja, ich sage
Mitbegründer - unserer Deutschen Demokratischen Republik ändern, auf das
Äußerste ändern. Das verspreche ich euch.“
Mit
diesen Worten eröffnete unsere Klassenlehrerin Frau Heinrich die erste
Unterrichtsstunde des neuen Schuljahres am 1. September 1970. Über der Wandtafel
hing das Bildnis des Ersten Sekretärs der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen
Republik, Walter Ulbricht. So begann unser erster Schultag in der sechsten
Klasse. Was unsere Klassenlehrerin zusammen redete, verstanden die wenigsten
von uns. Und ich schon gar nicht. Ich war immer noch mit meinen Beatles
beschäftigt, die sich im Frühjahr wegen der verrückten Yoko Ono getrennt
hatten. Was gingen mich da die blauen Halstücher von diesem Thälmann an.
Knapp
drei Jahre später, am Ende des achten Schuljahres im Juni 1973, wären an und
für sich nur drei kleine unwesentliche Veränderungen zu erwähnen: erstens, dass
wir nun die berühmt-berüchtigten Blauhemden der Freien Deutschen Jugend tragen
mussten; zweitens, man uns mit „Sie“ ansprach, weil wir nach der „Jugendweihe“
wie Erwachsene behandelt werden sollten; und drittens, dass das Foto im
Bilderrahmen über der Wandtafel ausgetauscht worden war. Obwohl Ulbricht
schwerkrank das Krankenbett hütete, hieß der neue Mann im Staate längst Erich
Honecker, der mit Hilfe der Russen seinen Vorgänger bereits im Jahre 1971 als
Parteivorsitzenden stürzte, was ich damals, wiewohl viele andere auch, gar
nicht wusste.
Wir
erhielten die Abschlusszeugnisse der achten Klasse, die ausschlaggebend für
unseren zukünftigen Lebensweg waren. In diesen Zeugnissen befanden sich die Zu-
oder Absagen für jeden von uns, der die Aufnahme in die „Erweiterte Oberschule“
beantragt hatte. Die Erweiterte Oberschule endete nach der zwölften Klasse mit
dem Abitur. Frau Heinrich hielt abermals eine ergreifende Rede.
„Mit
diesem Dokument, das Sie nun in Ihren Händen halten, beginnt für jeden von
Ihnen ein neuer Lebensabschnitt. Der eine möchte Schlosser werden, die andere
Friseuse und der dritte vielleicht Dachdecker, wie einst unser hochverehrter
Staatsratsvorsitzende, Genosse Erich Honecker. Dafür reichen die zwei folgenden
Jahre an unserer ‚Polytechnischen Oberschule‘ vollkommen aus und man beginnt
danach die Lehre in seinem Lieblingsberuf. In unserem sozialistischen Staat
wird jeden von Ihnen eine Lehrstelle garantiert. Das ist eine der großen
Errungenschaften und war und ist auch weiterhin das selbstverständliche Ziel
unserer ruhmreichen Staats- und Parteiführung. Unserer sozialistischen
Arbeiter- und Bauernmacht ist es im glorreichen Kampf gegen die
kapitalistischen Ausbeuter gelungen ein blühendes Land aufzubauen, in dem sich
jeder nach seiner Veranlagung und seinen Fähigkeiten entwickeln darf. Sollten
Sie jemals über unseren antifaschistischen Schutzwall nachgedacht haben, der in
weiser Voraussicht zum Schutz unserer friedliebenden Bürger errichtet wurde,
werden Sie feststellen können, dass ausschließlich unser real existierender
Sozialismus die Mittel und Möglichkeiten schaffen kann, um den Menschen in das
Zentrum allen Seins zu stellen . . . Ja, Manfred, was gibt es denn?“
„Frau
Heinrich, ich habe, während Sie Ihre glühende Ansprache halten, meinen
Zeugnisdurchschnitt ausgerechnet und festgestellt, dass ein Notendurchschnitt
von 1,4 für die Aufnahme an die Erweiterte Oberschule nicht ausreicht, wobei
Holger, der Metallfacharbeiter werden möchte, mit einem Durchschnitt von 2,3
zugelassen ist. Seit wann braucht man als Metallfacharbeiter ein Abitur? Ich
verstehe das nicht. Haben Sie eine Erklärung dafür, Frau Heinrich?“
„Er
versteht es nicht? Er will eine Erklärung? Ich glaube schon, dass Sie das
verstehen, Manfred. Wenn ich mich recht entsinne, wollten Sie zum Film, nicht
wahr? Zur DEFA nach Babelsberg. Sie möchten Künstler
Weitere Kostenlose Bücher