Das Salz der Mörder
deutscher
Papierfähnchen. Hörst du, Charlotte? Er steht auf dem Balkon der Wiener
Hofburg. So, höre: Er verkündet den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche
Reich. Die Begeisterung ist grenzenlos. Charlotte, hörst du sie denn nicht
jubeln?‘
Er
war so euphorisch im März 1938. Er ließ nichts auf diesen Verrückten kommen.
Ein Jahr später, eine ähnliche Szene vor demselben Radioapparat, doch diesmal
mit einer verheerenderen Auswirkung. ‚Charlotte, hast du das gehört? Die
Polaken haben einen unserer Rundfunksender verwüstet. Gleiwitz heißt wohl das
Nest, oder so ähnlich. Ist ja auch egal. Weißt du, was das bedeutet? Das war
ein heimtückischer Überfall auf unser Deutsches Reich. Wir können uns das nicht
von diesen Untermenschen bieten lassen! Ich sage dir was, Charlotte: Ich bin
dreiundzwanzig Jahre alt, und ich will dem Führer helfen. Keiner kann sich mehr
in seinem Schneckenhaus verkriechen. Es muss etwas unternommen werden gegen
dieses Lumpenpack. Wir müssen Deutschland sauber halten. Wenn mein Land von
Vandalen überfallen wird, soll ich etwa dabei zusehen und noch vielen Dank
sagen? Nein, so kann das nicht weitergehen. Charlotte, ich melde mich morgen
bei der Wehrmacht!‘
Und
das war der Anfang vom Ende. Ich schlug die Hände über meinem Kopf zusammen,
aber ich sprach kein einziges Wort. Früher oder später würden sie ihn ja
sowieso einziehen, sagte ich mir. Der unabwendbare Krieg brach bekanntlich am
1. September 1939 aus. Ich sah meinen Mann nur noch zweimal, bevor ich jene
Vermisstennachricht erhielt. All das ging mir durch den Kopf, als wir auf die
Züge aus Russland warteten.
Die
eilig herbei georderten Musikanten schmetterten einen fröhlichen Marsch,
während die überladenen Züge mit den verschollenen Soldaten auf die
Abstellgleise rangiert wurden. Aus den Bahnhofslautsprechern ertönte eine
zuversichtliche Rede, die niemand zur Kenntnis nahm. Wir Wartenden, ausgerüstet
mit vergrößerten Familienfotos, selbstgemalten Namensschildern und unsere Kinder
hinter uns her schleifend, stürmten über die Gleise, denen nach Kot und Urin
stinkenden Waggons entgegen. Nach stundenlanger Suche, inmitten der sich
überschwänglich begrüßenden Menschenmassen, gab ich auf. Mein Sohn und ich
waren die letzten auf dem Bahnhofsgelände. Zwischen all den verhungerten,
ausgemergelten Männern, unter all den lebenden Skeletten konnte ich meinen Mann
nicht ausfindig machen. In der kleinen Hoffnung, ihn möglicherweise übersehen
zu haben, rannten wir nach Hause. Doch unsere Wohnung empfing uns genauso
trostlos und leer wie wir sie verlassen hatten.
Schwester
Veronika, ich lebte infolgedessen mehr als zehn Jahre in einer Welt der
Zuversicht, können Sie sich das vorstellen? Und diese Zuversicht zerbrach an
einem einzigen Tag, nein, in einer einzigen Sekunde im Jahre 1955.“
„Gnädige
Frau, ich glaube, wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muss auch Leiden
einen Sinn haben.“
„Ja,
das ist sicher wahr. Mein liebes Kind, Sie sind jetzt in einem Alter, in dem
ich damals war, als ich meinen Mann verlor. Wir teilen vermutlich das gleiche
Schicksal. Heute bin ich eine kranke, alte Frau. Ich habe mich mit diesem Leben
abgefunden. Obwohl wir einfachen Geschöpfe Gottes meistens den Sinn hinter all
dem nicht erfassen, dennoch, Gott ist nicht mit den Starken, Er ist mit den
Aufrichtigen. Es ist unmöglich Gott zu fragen, warum er dieses oder jenes tut.
Wir müssen seine Welt und seine Gesetze vorbehaltlos anerkennen. Gehen Sie
eigentlich in die Kirche, Schwester Veronika?“
„Nein!
Ich möchte nicht der Kirche verantwortlich sein, sondern Jesus Christus.“
„Ja,
da kann ich Sie gut verstehen. Ich will auch nichts mehr mit diesen modernen
Bethäusern zu tun haben. Priester sind mittlerweile zu Geistlichen mutiert, die
den Weg zum Paradies kennen und dafür Geld verlangen. Schwester, Sie sind so
ein lieber und aufrichtiger Mensch, man findet das heutzutage nur noch selten.
Ich kenne Ihre traurige Geschichte lediglich aus den Zeitungen, und gewiss ist
die Hälfte von dem gelogen, was dort geschrieben steht. Was mich interessiert,
ist, wie kommen Sie nach all dem mit Ihrem Jungen zurecht? Ich hatte ja
ähnliche Probleme.“
„Ach,
mein Daniel . . . Ja, nach all dem hat er sich sehr verändert. Er ist zu ernst
geworden für sein Alter. Er kapselt sich von seinen Freunden ab, um mich
ständig gegen etwas Imaginäres schützen zu können. Er ist so lieb. Es fällt mir
schwer, mich richtig zu
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