Das System
Anspannung wich aus seinem Körper und ließ ein Gefühl ohnmächtiger
Wut zurück. Seine Beute war nicht in ihrem Nest. Er ging zurück ins Arbeitszimmer und legte die flache Hand auf die Rückseite
eines der Monitore – er war kalt. Schon mindestens eine Stunde war er nicht in Betrieb. |284| Wo konnten die beiden sein? War er zu spät gekommen und Lucy hatte ihr zerstörerisches Werk bereits vollbracht? Ein Anflug
von Panik überkam ihn. Was, wenn der Virus sich bereits im Netz ausbreitete, Pandora schon tödlich infiziert war? Seine neugewonnene
Macht würde dahinschmelzen wie Eis in der Sonne.
Er beruhigte sich. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Lucy in nur einer Nacht den Killervirus geschaffen hatte. Vermutlich
waren die beiden nur frühstücken oder einkaufen gegangen. Sie würden bald zurück sein. Er würde einfach hierbleiben und auf
sie warten – ein lautloser, tödlicher Überraschungsgast. Alles würde sehr schnell gehen. Lange bevor das letzte Blut aus den
tiefen Schnittwunden an ihren Kehlen gesickert war, wäre er wieder verschwunden.
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71.
Westerland/Sylt,
Donnerstag 13:15 Uhr
Mark steckte den Schlüssel in die Tür, öffnete und hielt inne. Hatte er ein Geräusch gehört? Es war dunkel auf dem schmalen
Flur. Er zögerte einen Moment und lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts hören. Er schaltete das Licht an und trat ein.
Lisa folgte dicht hinter ihm.
Er ging ins Wohnzimmer und zog die Jalousien hoch. Licht durchflutete die kleine Wohnung. Das große Panoramafenster gab einen
herrlichen Blick auf die Strandpromenade von Westerland frei. Dahinter erstreckte sich die Nordsee bleigrau und kalt bis zum
Horizont. Die Luft roch nach Salz und dem schalen Aroma eines selten bewohnten Ferienapartments.
Es gehörte Julias Eltern. Sie benutzten es für gelegentliche Wochenendausflüge, doch die meiste Zeit des Jahres stand es leer.
Mark war mit Julia oft hier gewesen. Er teilte mit ihr die |285| Liebe für das raue Klima der Insel. Gerade im Winterhalbjahr, wenn kaum Touristen da waren, konnte man am einsamen Strand
spazieren gehen, sich vom kalten Wind die Gedanken aus dem Kopf blasen lassen und sich anschließend bei Tee mit Rum und entspanntem
Sex aufwärmen. Diese Ausflüge waren ihm immer wie eine Runderneuerung für die Seele vorgekommen. Doch in letzter Zeit waren
gemeinsame Unternehmungen mit Julia selten geworden.
Mark trug immer einen Zweitschlüssel an seinem Bund mit sich herum. Jetzt war er froh über diesen Ballast: Das Apartment war
ein idealer Rückzugsort, fernab der Hektik der Großstadt.
Er war sich mit Lisa darüber einig gewesen, dass sie nicht in Hamburg bleiben konnten. Pandora kannte ihre Adresse, und der
Brand in Weisenbergs Institut hatte gezeigt, dass sie zu allem entschlossen war, um die beiden zu töten. Selbst wenn Diego
im Gefängnis saß, würde sie in der Stadt einen Weg finden. Vielleicht würde sie andere Menschen auf ihre Seite ziehen, die
wie Diego die eigene Gier über die Vernunft stellten. Vielleicht würde sie über einen weiteren technischen Defekt einen Großbrand
auslösen. Selbst wenn Lisa und Mark entkamen, würden vielleicht Unschuldige dabei verletzt oder getötet werden. Es war definitiv
besser, wenn sie eine Weile von der Bildfläche verschwanden – bis Lisa den Virus entwickelt hatte und sie sich dem Kampf mit
Pandora stellen konnten.
Lisa klappte Eva Weisenbergs Laptop auf dem Esstisch auf und schaltete ihn ein. Sie hatte sich entschlossen, auf diesem Gerät
zu arbeiten. Es war ziemlich veraltet, mit nur 256-Megabyte-Hauptspeicher und einem fußkranken 700-Megahertz-Pentium-II-Prozessor.
Aber es war gut zu transportieren, und für die Analyse des Source Code benötigte sie keine große Rechenleistung. Außerdem
hatte der alte Laptop den Vorteil, dass er nicht mit dem Pandora-Virus verseucht sein konnte.
|286| Nach den Ereignissen in Weisenbergs Haus waren sie in Lisas Wohnung gefahren und hatten dort überlegt, wo sie sich eine Weile
verstecken konnten. Mark hatte die Idee mit der Ferienwohnung gehabt, aber es war schon zu spät für den letzten Autozug ab
Niebüll gewesen. Lisa, die in der Nacht zuvor nicht geschlafen hatte, wollte frisch und ausgeruht an die Arbeit gehen. So
hatten sie eine weitere Nacht in ihrer Wohnung verbracht.
Jetzt und hier in der vertrauten Ferienumgebung, umschmeichelt vom Rauschen der Brandung und den Schreien der Möwen, kam ihm
die Bedrohung
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