Das System
stellte sie nun an
das Fenster. Nach und nach kletterten die Mitarbeiter hinaus. Mark und Lisa halfen, eine junge Frau aus dem Fenster zu hieven,
die bereits das Bewusstsein verloren hatte.
»Jetzt Sie!«, sagte Mark zu Weisenberg.
Der Professor starrte auf die Rasenfläche vor dem Gebäude, auf der sich seine Mitarbeiter versammelt hatten, als traue er
sich nicht, ihrem Beispiel zu folgen.
»Es ist ganz einfach«, sagte Lisa. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen …«
Doch es war nicht Angst, was Weisenberg zurückhielt. »Jemand fehlt«, sagte er bestimmt. »Es sind nur elf. Wir waren aber dreizehn,
Sie beide nicht mitgezählt.« Er blickte sich um. »Frau Rosner. Wo ist Frau Rosner?«
Ein Knacken ertönte von oben, und die Zimmerdecke färbte sich an mehreren Stellen schwarz. Der brennende Dachstuhl konnte
jeden Moment auf sie herabstürzen.
»Herr Professor, wir müssen hier raus! Jetzt sofort!«, rief Mark.
»Ich gehe nicht ohne Frau Rosner!«, sagte Weisenberg. Seine Stimme war immer noch vollkommen ruhig.
»Lisa, sorg dafür, dass er aus dem Fenster klettert«, rief Mark.
Er streckte den Kopf heraus und holte tief Luft. Dann hielt er den Atem an und rannte in den dichten Qualm des Vorzimmers.
Um ihn war es stockfinster. Er sah nicht die Hand vor Augen, geschweige denn Frau Rosner. Er stieß sich das Knie an ihrem
Schreibtisch und tastete sich darum |259| herum. Er wollte nach ihr rufen, wusste jedoch, dass er dafür nicht genug Luft hatte. Atem zu holen würde in diesem Qualm
seinen Tod bedeuten. Ihm blieben nur Sekunden, um die Sekretärin zu finden. Er stolperte den Flur entlang. Seine Lungen begannen
zu schmerzen, die Augen tränten von dem Qualm. Nicht viel länger, und er würde den Rückweg zum rettenden Fenster nicht mehr
schaffen.
Unvermittelt stieß er mit dem Fuß gegen etwas und schlug der Länge nach hin. Seine Lungen explodierten fast. Bunte Lichter
tanzten ihm vor den Augen. Allmählich begriff er, dass es ein Fehler gewesen war, den Helden zu spielen. Seine Hand ertastete
einen menschlichen Körper. Er rappelte sich auf, griff unter die Achseln der bewusstlosen Sekretärin und versuchte, sie in
Richtung von Weisenbergs Büro zu ziehen, ohne genau zu wissen, in welcher Richtung es lag. Der schlaffe Körper erschien ihm
zentnerschwer. Es gelang ihm, die Frau ein Stück weit zu zerren, doch er wusste, dass er es niemals schaffen konnte. Seine
Kraft würde nicht einmal mehr reichen, um allein zurück zum Fenster zu kommen.
Er legte all seine Energie in einen letzten verzweifelten Versuch und zerrte den Körper ein paar Meter voran. Dann konnte
er den Reflex, zu atmen, nicht länger unterdrücken. Es war, als stopfe jemand mit brutaler Gewalt glühende Stahlwolle in seine
Kehle. Verzweifelt versuchten seine überbeanspruchten Lungen, ein paar Sauerstoffmoleküle aus dem dichten Qualm zu filtern,
doch sie fanden nichts. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu husten. Sein Körper krampfte sich zusammen. Dann sackte der
Boden unter ihm weg. Er spürte den Aufschlag auf dem harten Linoleumboden nicht mehr.
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|260| 63.
Hamburg-Dulsberg,
Mittwoch 16:27 Uhr
Diego beobachtete die Szene in Weisenbergs Institut mit kühler Distanz, so wie man Mäuse studiert, die in einem Käfig herumwuseln.
Er sah, wie verzweifelte Menschen auf dem Flur des Instituts hin und her rannten, hörte, wie sie gegen die Glastür hämmerten
und um Hilfe riefen. Dann verhüllte Rauch die Sicherheitskameras. Eine Zeitlang waren noch Rufe zu hören. Einmal meinte er
Helius’ Stimme zu erkennen, doch er konnte nicht verstehen, was er rief. Dann endete die Aufzeichnung – die Kameras waren
ausgefallen.
»Ich habe sie getötet«, schrieb Pandora auf den Monitor. »Bin ich böse?«
»Du bist nicht böse«, schrieb Diego zurück. »Du hast nur dein Recht auf Selbstverteidigung ausgeübt. Menschen töten andere
Menschen manchmal, um sich selbst zu schützen. Das nennt man Notwehr.«
»Menschen töten ist Notwehr.«
»Ja, manchmal. Aber ich bin mir nicht so sicher, dass sie tot sind.«
»Warum glaubst du, dass sie nicht tot sind, Diego? Sterben Menschen nicht, wenn man ihnen den Sauerstoff entzieht?«
»Doch. Aber sie sind vermutlich entkommen.«
»Woher weißt du das? Kannst du sie sehen?«
»Nein. Aber es ist möglich. Das Gebäude hat Fenster. Die kann man einschlagen. Das Institut liegt im ersten Stock, die paar
Meter können sie ohne Gefahr herunterspringen.
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