Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
aufzuplustern und die Besatzung über den Pazifik zu jagen. Ende September. Noch eineinhalb Monate. Eine Ewigkeit. Aber der Tag würde kommen. Ganz bestimmt.
Hiller brauchte einen freien Kopf. Er musste auf andere Gedanken kommen, da die Ereignisse der letzten Tage seinen Geist mehr und mehr vernebelt hatten. Dieser verdammte Entführungsfall. Vier Mädchen vermisst. Vier gelähmte Mädchen. Innerhalb von zwei Monaten. Und dann rief vorgestern mittags völlig unerwartet Robert Hearing vom New Yorker Firedepartment an und teilte ihm mit, dass er Hinweise auf einen Mordfall hätte. Mord an einem gelähmten , achtjährigen Mädchen. Patricia White.
Zuerst sah Hiller keinen Zusammenhang. Bis jetzt hatte es lediglich vier Vermisstenmeldungen gegeben und keinerlei Hinweise darauf, dass den Mädchen etwas zugestoßen war. Natürlich musste man aufgrund der Erfahrungswerte davon ausgehen, dass das Leben der Mädchen in Gefahr war, aber solange keines der Mädchen tot aufgefunden wurde, hofften Ermittler immer, dass sie lebten, und der Entführer es auf etwas anderes als deren Leben abgesehen hatte. Vielleicht war es nur Zweckoptimismus, vielleicht selbstschützende Zuversicht, oder vielleicht waren die Ermittlungsbeamten auch einfach nur verflucht gut darin, sich selbst zu belügen.
Die Vorgehensweise, wie die kleine Patricia White ermordet worden war, schien rätselhaft. Laut Brandermittlung stellte sich heraus, dass der Brand mit Zeitzünder gelegt worden war. Hearing hatte es ihm genau erklärt. Der Mörder hatte diese Zünder hinter den Steckdosen im Erdgeschoss versteckt, wo sich das Feuer in den Wänden hoch gebrannt hatte. Das hatte zwei Vorteile: Der Brand wurde relativ spät entdeckt, da die Wände der älteren Häuser das Feuer wie Kamine von unten mit Sauerstoff versorgten und der Rauch sich unter dem Dach aufstaute. Und zweitens – hatte es für eine unvoreingenommene Brandermittlung den Anschein, ein Kabelbrand hätte das Feuer ausgelöst. Letzteres war auch die erste Vermutung der Ermittler. Erst als Jack Reynolds auftauchte und behauptete, das Mädchen wäre während des Brandes nicht im Haus gewesen und sich bei der Autopsie herausstellte, dass seine Aussage korrekt war, untersuchten die Männer vom FDNY das Haus noch einmal und stellten Spuren eines Brandbeschleunigers fest. Der Brand war demnach gelegt worden und Hearing – und auch Hiller – vermuteten, dass der Mord an der Kleinen wie einen Unfall aussehen sollte. Wie bei dem anderen Mädchen. Melissa Brighton.
Anders als in diesen Fernsehserien – wie immer sie auch heißen mochten – funktionierte die Vernetzung der einzelnen Departments nicht immer klaglos. So hatte das Staten Island Police Department lediglich in den Computer eingegeben, dass bei einem Wagenbrand eine Person ums Leben gekommen war. Hätten sie sich sofort im System über die aktuelle Vermisstenlage informiert – wie es eigentlich in der Dienstvorschrift geregelt wäre –, hätte Hiller möglicherweise viel früher den Zusammenhang festgestellt, der im Nachhinein offensichtlich war.
Die Identität des Mädchens konnte infolge einer Verk ettung unglücklicher Umstände erst viel später festgestellt werden. Zwar wurde ihre DNS mit einer Haarprobe verglichen, die Melissas Vater dem FBI zur Verfügung gestellt hatte - sie stammte von einer Bürste, die ausschließlich Melissa benutzte – , aber es konnte keine Übereinstimmung festgestellt werden. Ein Fehler ihres Vaters. Die Haarprobe stammte nicht von Melissa sondern von einer Puppe mit Menschenhaar, die das Mädchen offenbar mit ihrer Bürste frisiert hatte. Da das Mädchen nicht identifiziert werden konnte, hatt en es die Behörden zur Beerdigung auf Hart Island freigegeben. Erst nach Reynolds Hinweisen und den Parallelen der beiden Brände wurde die DNS-Analyse ein weiteres Mal durchgeführt. Diesmal mit Haaren von der Kleidung der Kleinen. Die Analyse ergab dann die traurige Gewissheit. Melissa wurde mittlerweile auf einem Friedhof in Manhattan beigesetzt.
In beiden Fällen war die Handschrift des Mörders die gleiche. Ein Zeitzünder, der einen B rand auslöste, u nd ein Mädchen, das bereits vor dem Brand tot war. Zwei Brände also, beide in Castleton Corners, Staten Island. Bei beiden kamen Mädchen ums Leben, und in beiden Fällen war Jack Reynolds bei der Löschmannschaft des FDNY. Ein Zufall, möchte man meinen. Hiller meinte das nicht.
Letztlich war es sogar Reynolds selbst, der die Fälle zusammenführte.
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