Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
es sehr schwierig geworden, Mr. Peterson nach all dem Gerede über Pädophilie plötzlich zum Opfer zu erklären, aber glücklicherweise schien breiter Konsens darüber zu bestehen, dass es in einem Fall wie diesem nicht notwendigerweise ein Opfer geben musste. Oder wenn ein Opfer verlangt wurde, dann konnte die Moral höchstpersönlich diese Rolle übernehmen. In der neuen Interpretation der Ereignisse wurden Mr. Peterson und ich zu Verschwörern. Er hatte beschlossen, sich umzubringen, und ich war bereit, ihm zu helfen, gegen eine Gebühr, die in bar und in Betäubungsmitteln entrichtet wurde. Und diese Version erfreute sich wachsender Beliebtheit, schon bevor die Nachricht von dem Testament die Runde machte. Aber darüber will ich jetzt nicht reden. Vermutlich ist es das Letzte, worüber ich reden werde. Ich bin ein wenig vom Kurs abgewichen. Der Punkt, auf den ich eigentlich zu sprechen kommen wollte, ist folgender:
Von Anfang an stürzten sich die Medien auf den Umstand, dass ich Mr. Peterson beim Sterben geholfen hatte. Man nannte es unseren »Todespakt«, aber das sagt nichts über die Bedeutung der Sache aus. Das ist bloß ein Schlagwort, mit dem man Zeitungen verkauft. Für uns ging es niemals um den Tod, sondern immer nur um das Leben. Die Gewissheit, dass es einen Ausweg gab und dass sein Leiden nicht unerträglich werden würde, war der Schlüssel zu Mr. Petersons Weiterleben. Er lebte noch viel länger, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Es waren die Wochen vor unserem Pakt, die in Dunkelheit und Verzweiflung getaucht waren. Nachdem wir unser Bündnis geschlossen hatten, bekam das Leben wieder einen Sinn.
Ich möchte Ihnen etwas über Zeit erzählen: Die Zeit ist nicht das, wofür Sie sie halten. Es ist kein regelmäßiger Puls, der für jedes Individuum an jedem beliebigen Ort im Universum gleich schlägt. Das hat schon Einstein vor ungefähr hundert Jahren entdeckt, mithilfe seines ungewöhnlich großen Gehirns. Er stellte einige Gleichungen auf, die uns zeigen, dass eine Person in einem Zug, der mit annähernder Lichtgeschwindigkeit fährt, die Zeit mit einem anderen Maßstab messen würde als eine Person, die am Bahnsteig auf den Zug wartet. Und eine Person, die auf der Oberfläche der Sonne sitzt, hätte ein anderes Zeitgefühl als eine Person, die schwerelos durch den interstellaren Raum schwebt. Die Zeit hat unterschiedliche Werte für Menschen in unterschiedlichen Situationen. Einstein hat diese Theorie mathematisch bewiesen, aber meiner Erfahrung nach kann jeder Einzelne dieses Phänomen selbst nachprüfen.
Ich weiß zum Beispiel, dass Mr. Peterson den Fluss der Zeit während jener letzten sechzehn Monate ganz anders empfand als ich. Er sagte mir oft, besonders gegen Ende, dass für ihn die Zeit zu einem langsamen, friedlichen Dahingleiten geworden sei. Wenn ich raten müsste, warum er das so empfand, würde ich sagen, es lag daran, weil es Zeit war, mit der er nicht gerechnet hatte – Zeit, die zu erleben, er nicht erwartet hatte. Vielleicht war der Grund auch, weil er der Zeit nun erlaubte dahinzugleiten. In dieser Betrachtungsweise lag eine gewisse Zufriedenheit, da die Gedanken nie weit in die Zukunft schweiften. Sein Leben war einfach geworden, er hatte es sozusagen entrümpelt. Und wenn man so lebt, kann es einem durchaus vorkommen, als ob sich die Zeit ins Endlose dehnt. Die Dinge geraten erst dann in Bewegung, wenn man sich Gedanken über all das macht, was man noch erledigen muss. Je mehr man in die Zeit hineinpressen will, desto weniger entgegenkommend wird sie.
Natürlich hatte Mr. Peterson die Zukunft nicht ganz aus den Augen verloren. Da waren noch immer Vorkehrungen zu treffen. Es gab E-Mails und Telefonate mit der Klinik in der Schweiz, medizinische Unterlagen mussten angefordert werden (unter dem Vorwand, einen Spezialisten konsultieren zu wollen), die dann kopiert und abgeschickt wurden. Aber nachdem Mr. Petersons Anfrage geprüft und vorläufig genehmigt worden war, rückten diese Dinge in den Hintergrund. Solange er die Schweizer Klinik auf dem Laufenden hielt, wusste er, dass es für ihn einen sicheren Ausweg gab. Er konnte diesen finalen Termin relativ kurzfristig vereinbaren, wenn die Zeit gekommen war. Aber bis dahin war er in der Lage, die Gedanken daran aus seinem Kopf zu verbannen. Stattdessen konnte er sich auf andere Maßnahmen konzentrieren, die ihm kurz- und mittelfristig halfen.
Auf Anraten seines Arztes meldete er sich bei einem Physiotherapeuten im
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