Das Ungeheuer
Beinahe mußte er lächeln, als ihm bewußt wurde, daß sein Sohn trotz all seiner Geisteskraft noch immer lediglich die Körperkraft eines Zehnjährigen hatte.
VJ wand sich und keilte aus wie ein Rasender, aber Victor griff mit seinem freien Arm unter VJs Knie und riß den Jungen von den Beinen.
»Hilfe!« schrie VJ. »Wachen!« Doch seine Stimme ging in einem dumpfen Grollen unter, das immer noch anschwoll und die Glasgefäße im Labor erklirren ließ. Es war wie der Beginn eines Erdbebens.
Victor ging hinüber zu der primitiven Luke, die die Öffnung des Schleusentunnels bedeckte. Einen Meter vor ihr blieb er stehen. Er blickte hinunter in die eisblauen Augen seines Sohnes, die ihn herausfordernd anstarrten.
»Es tut mir leid, VJ.« Aber die Entschuldigung galt nicht für das, was in diesem Moment seinen Lauf nahm. Das tat ihm nicht leid. Doch Victor fühlte, daß er seinem Sohn Abbitte schuldete für das Experiment, das er vor über zehn Jahren in einem kleinen Labor durchgeführt hatte. Jenes Experiment, das seinen hochintelligenten, aber gewissenlosen Sohn hervorgebracht hatte. »Lebwohl, Isaak!«
Im selben Moment brachen hundert Tonnen Wasser durch die Wandöffnung. Das alte Schaufelrad in der Mitte des Raumes begann sich wie wild zu drehen, die alten verrosteten Zahnräder und Wellen zum erstenmal seit Jahren in Bewegung setzend, und für einen kurzen Moment schlug die riesige Uhr in der Spitze des Turmes mit heiser dröhnendem Klang. Aber die entfesselten Wassermassen zerschmetterten rasch alles, was in ihrer Bahn war, und unterspülten selbst die riesigen Granitblöcke des Fundaments in Minutenschnelle. Mehrere der größeren Blöcke verschoben sich, und die Balken, die das erste Geschoß trugen, begannen zu bersten und umzuknicken. Zehn Minuten nach der Explosion begann der Turm selbst zu wanken und dann wie in Zeitlupe in sich zusammenzufallen. Das einzige, was schließlich von dem Gebäude und dem geheimen Kellerlabor übrigblieb, war ein sumpfiger Brei aus Schutt und Geröll.
EPILOG
Ein Jahr später
»Da ist noch eine Patientin«, sagte Jean und steckte den Kopf zur Tür herein, »dann haben Sie frei.«
»Eine außer der Reihe?« fragte Marsha, leicht beunruhigt. Sie hatte geplant, spätestens um vier Uhr fertig zu sein. Wenn sie jetzt noch diese zusätzliche Patientin drannahm, würde sie nicht vor fünf wegkommen. Unter normalen Umständen hätte ihr das nichts ausgemacht, aber heute war sie für sechs mit Joe Arnold verabredet, Davids altem Geschichtslehrer. Er wollte sie in die Zoohandlung im Einkaufszentrum begleiten, um den Retrieverwelpen abzuholen, zu dessen Kauf er sie überredet hatte. »Er wird dir guttun«, hatte er gesagt. »Tiertherapie. Glaub mir, wenn jeder, der psychische Probleme hat, sich einen Hund anschaffen würde, wärt ihr Psychiater bald arbeitslos!«
Ein paar Tage, nachdem er in den Zeitungen von der Tragödie gelesen hatte, hatte er Marsha angerufen, um ihr zu sagen, wie leid es ihm tue und daß er es immer bereut habe, sich nach Davids Tod nicht bei ihr gemeldet und ihr sein Beileid ausgesprochen zu haben. Im Laufe der Zeit hatten sich die beiden angefreundet. Joe schien entschlossen, ihre selbstgewählte Isolation aufzubrechen.
»Die Frau ließ sich nicht abwimmeln«, sagte Jean. »Wenn ich sie heute nicht dazwischengequetscht hätte, hätten wir sie eine ganze Woche nicht sehen können. Sie sagt, sie sei ein Notfall.«
»Notfall!« knurrte Marsha. Echte psychiatrische Notfälle
waren zum Glück selten. »Okay!« sagte sie mit einem Seufzer.
»Sie sind ein Engel!« Jean zog die Tür zu.
Marsha ging um ihren Schreibtisch herum und setzte sich hin, um die vergangene Sitzung auf Diktaphon zu sprechen. Als sie fertig war, schwenkte sie ihren Stuhl herum und blickte aus dem Fenster auf die malerische Landschaft. Der Frühling nahte. Das Graubraun des Winters begann einem zarten Grün zu weichen. Bald würden die Krokusse herauskommen. An den Bäumen waren schon die ersten kleinen Knospen zu sehen. Marsha holte tief Atem. Sie hatte einen langen Weg hinter sich. Es war gerade etwas über ein Jahr vergangen seit jener schicksalhaften Nacht, in der sie ihren Mann und ihren zweiten Sohn durch einen »tragischen Unglücksfall« - so hatten die Medien es genannt - verloren hatte. Die Zeitungen hatten sogar ein Foto von dem rostigen Bolzen gebracht, der offenbar dem Druck eines alten Schleusentors nicht standgehalten hatte, das wiederum den Fluten des vom
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