Das Ungeheuer
Frühjahrshochwasser angeschwollenen Merrimack erlegen war. Marsha hatte nie versucht, der Geschichte zu widersprechen. Sie hatte es vorgezogen, den Alptraum in einer scheinbar zufälligen Tragödie enden zu lassen. Es war so viel einfacher als die Wahrheit.
Es war ihr ungeheuer schwergefallen, mit ihrem Kummer fertig zu werden. Sie hatte das große Haus verkauft, das sie und Victor gemeinsam bewohnt hatten, und sich von ihren Chimera-Aktien getrennt. Mit einem Teil des Erlöses aus diesen Verkäufen hatte sie ein entzückendes Haus an einer Meeresbucht in Ipswich erstanden. Es war von dort nur ein kurzer Fußmarsch zum Strand mit seinen prachtvollen Sanddünen. Sie hatte manches Wochenende allein am Strand in schwermütiger Abgeschiedenheit verbracht, ungestört von jeglichen Geräuschen außer dem Rauschen der Wogen und dem gelegentlichen Kreischen einer Seemöwe. Seit sie klein war, hatte Marsha stets Trost in der Natur gefunden.
Weder Victors noch VJs Leiche war je gefunden worden. Offenbar hatte die gewaltige Kraft der Strömung sie Gott weiß wohin gespült. Aber die Tatsache, daß es keine Leichen gab, machte Marsha den Prozeß des Verarbeitens und Sichabfindens nur um so schwieriger- wenngleich nicht aus den Gründen, die die meisten Psychiater vermuten würden. Jean hatte Marsha taktvoll vorgeschlagen, daß sie sich selbst einer Therapie unterziehe, aber Marsha hatte sich ihrem sanften Drängen widersetzt. Wie hätte sie erklären sollen, daß sie dadurch, daß keine sterblichen Überreste gefunden worden waren, das unbehagliche Gefühl nicht loswerden konnte, daß die grausige Episode noch nicht vorüber war? Auch von den vier Föten waren keine Überreste gefunden worden - freilich hatte danach auch niemand gesucht, da ja niemand von ihrer Existenz wußte. Aber auch Monate danach hatte Marsha quälende Alpträume gehabt, in denen sie am Strand entlangging und plötzlich einen Finger oder einen Fuß aus dem Sand ragen sah.
Marshas bester Therapeut war ihre Arbeit gewesen. Nachdem der erste Schock und der erste Kummer ein wenig nachgelassen hatten, hatte sie sich regelrecht hineingestürzt; sie hatte sogar freiwillig zusätzliche Stunden in verschiedenen Gemeindeeinrichtungen gearbeitet. Und Valerie Maddox war ihr ebenfalls eine große Hilfe gewesen; sie hatte viele Wochenenden bei Marsha in deren neuem Strandhaus verbracht. Marsha wußte, daß sie Valerie viel verdankte. Marsha schwenkte den Stuhl wieder zu ihrem Schreibtisch herum. Es war vier Uhr - Zeit, die letzte Patientin dranzunehmen und dann zur Zoohandlung zu fahren. Marsha signalisierte Jean über den Summer, daß sie bereit war. Sie stand auf und ging zur Tür. Als sie die Karteikarte für die neue Patientin von Jean entgegennahm, fiel ihr Blick auf eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, die halbverdeckt hinter Jean stand. Sie lächelte Marsha zu, und Marsha lächelte zurück. Marsha machte ihr ein Zeichen, hereinzukommen.
Marsha ließ die Tür angelehnt und ging zu dem Sessel, den sie immer bei ihren Sitzungen benutzte. Neben ihm war ein kleiner Tisch mit einer Schachtel Papiertücher für Patienten, die ihrer Emotionen nicht Herr werden konnten. Ihr gegenüber standen zwei weitere Sessel.
Als Marsha die Frau in ihr Büro kommen hörte, wandte sie sich um, um sie zu begrüßen. Die Frau war nicht allein. Ein dünnes Mädchen von etwa zehn Jahren, das bleich und verhärmt aussah, folgte ihr. Das sandfarbene Haar des Mädchens war strähnig und ungewaschen. In seinen Armen lag ein blondes Baby, das etwa achtzehn Monate alt sein mochte. Das Baby hielt eine Zeitschrift umklammert.
Marsha fragte sich, wer von den beiden wohl die Patientin war. Wer auch immer es war, sie würde darauf bestehen müssen, daß die andere hinausging. Für den Moment sagte sie weiter nichts als: »Nehmen Sie bitte Platz!« Marsha beschloß, sie die Gründe ihres Kommens vortragen zu lassen. Sie hatte im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, daß diese Technik mehr Informationen lieferte, als es jede Frage-und-Antwort-Sitzung vermochte.
Die Frau hielt das Baby, während das Mädchen sich in einen der Sessel vor Marsha setzte, und legte es dann in den Schoß des Mädchens zurück. Das Baby - es war ein Junge -schien ganz vertieft in die Illustrationen der Zeitschrift. Marsha fragte sich beiläufig, warum sie das Kind wohl mitgebracht hatten. Es konnte doch bestimmt nicht so schwierig sein, einen Babysitter zu bekommen.
Marsha hatte den Eindruck, daß das Mädchen
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