Das Ungeheuer
war leer.
Victor schloß die Tür und drehte den Schlüssel sorgfältig um, obgleich es hier nichts mehr zu sichern gab.
»Ganz ruhig«, mahnte er sich und versuchte die aufsteigende Paranoia niederzukämpfen. »Du läßt deine Phantasie durchgehen. Es muß eine Erklärung geben.«
Er stand auf und machte sich auf die Suche nach Robert Grimes. Er fand ihn bei der Elektrophorese, gerade den Auftrag erledigend, den Victor ihm erteilt hatte. »Haben Sie meine NGF-Datenbücher gesehen?« fragte Victor.
»Ich weiß gar nicht, wo sie sind«, antwortete Robert. »Ich habe sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen. Ich dachte, Sie hätten sie woanders hingestellt.«
Victor bedankte sich murmelnd und ging weg. Das Ganze war kein Phantasiegespinst mehr. Die Beweise türmten sich. Jemand hatte in sein Experiment eingegriffen, und das Resultat war tödlich gewesen. Victor beschloß, seinen schlimmsten Befürchtungen ins Auge zu sehen, und ging an den Flüssigstickstoffgefrierschrank. Er legte die Hand auf den Türgriff und zögerte. Seine Intuition sagte ihm, was er finden würde, aber er mußte sich zwingen, die Haube zu öffnen. Immer wieder hatte er Marshas Stimme im Ohr, wie sie ihm befahl, die übrigen fünf Zygoten unverzüglich zu vernichten.
Langsam senkte er den Blick. Zunächst konnte er wegen des eisigen Dampfes, der aus dem Lagerbehälter floß und sich lautlos auf dem Fußboden ausbreitete, nichts erkennen. Dann aber wurde die Sicht klarer, und er sah die Platte, auf der die Embryonen gestanden hatten. Sie war leer.
Einen Moment lang stützte Victor sich Halt suchend auf den Gefrierschrank und starrte auf das leere Tablett; er wollte nicht glauben, was seine Augen ihm zweifelsfrei sagten. Dann ließ er den Deckel zufallen. Der kühle Stickstoffdunst wirbelte um seine Beine, als sei er lebendig. Victor wankte in sein Büro zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. Jemand wußte von seiner NGF-Arbeit! Aber wer konnte das sein, und warum hatten sie absichtlich den Tod der beiden Kinder herbeigeführt - oder war das ein Unfall gewesen? Konnte jemand so versessen darauf sein, ihm, Victor, zu schaden, daß es ihm egal war, wer sonst dabei zu Schaden kam? Plötzlich nahmen Hursts Drohungen eine neue Dimension an.
Angst durchströmte ihn, als er erkannte, daß er herausfinden mußte, wer hinter all diesen seltsamen Ereignissen steckte. Er stand auf und ging im Zimmer hin und her, und mit Schrecken fiel ihm ein, daß David kurz nach dem Kampf um die Umwandlung von Chimera in eine Aktiengesellschaft gestorben war. Konnte sein Tod etwas damit zu tun haben? Konnte Ronald etwas damit zu tun haben? Nein, das war lächerlich. David war an Leberkrebs gestorben, nicht an einer Vergiftung oder einem Unfall, den jemand verursacht haben konnte. Sogar die Vorstellung, die Kinder von Hobbs und Murray könnten mit Absicht getötet worden sein, war lächerlich. Ihr Tod mußte auf ein intrazelluläres Problem zurückzuführen sein. Vielleicht hatte das Einfrieren eine zweite Mutation ausgelöst, die er sehen würde, sobald Grimes die DNS-Sequenz ermittelt hätte.
Er befahl sich, ruhig und logisch zu denken, und lief hinüber ins Rechenzentrum zu Louis Kaspwicz. Die Hardware, an der Louis gearbeitet hatte, war inzwischen ein leeres Metallgehäuse. Ringsherum verstreut lagen Hunderte von Bruchstücken und Einzelteilen.
»Ich störe Sie wirklich nur ungern noch mal«, sagte Victor. »Aber ich muß wissen, um welche Uhrzeit meine Stichworte gelöscht worden sind. Ich versuche herauszufinden, wie es mir hat passieren können.«
»Wenn es Sie tröstet«, erwiderte Louis, »sage ich Ihnen, daß viele Leute versehentlich mal Dateien löschen. Seien Sie gnädig mit sich! Was die Zeit angeht, so glaube ich, es war zwischen neun und zehn Uhr.«
»Könnte ich selbst mal einen Blick ins Log werfen?« fragte Victor; er dachte noch, wenn er vor oder nach dem Löschvorgang am Computer gewesen war, könne ihm das vielleicht einen Hinweis darauf geben, warum er es getan hatte.
»Dr. Frank«, sagte Kaspwicz mit einem verwirrenden Zucken, »die Firma gehört Ihnen. Sie können sich ansehen, was Sie wollen.«
Sie gingen in Louis' Büro, und er gab Victor das Log vom 18. November. Victor überflog alles, aber zwischen acht Uhr dreißig und zehn Uhr dreißig fand er keinen Ausdruck.
»Ich finde nichts«, bekannte er schließlich.
Louis kam um den Tisch herum und schaute ihm über die Schulter. »Seltsam«, sagte er und warf einen Blick auf das
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