Das Urteil
Seite und sah, daß Jennifer genau die Reaktion zeigte, die er vorhergesagt hätte - nämlich gar keine. Nein, das stimmte nicht ganz. Ein Muskel seitlich an der Backe bewegte sich, aber ansonsten hätte sie ebensogut an der Ampel stehen und auf grünes Licht warten können. Er warf einen Blick zur Bank der Geschworenen hinüber - auch sie registrierten es. Eine eiskalte Frau, mußten sie denken.
Hinter ihnen im Zuschauerraum machte sich halblautes Geraune breit, aber Villars konzentrierte sich nach einem beiläufigen Schlag mit dem Hammer auf die anstehende Aufgabe. »Was den zweiten Anklagepunkt betrifft«, las der Gerichtsdiener, »so befinden wir, die Mitglieder der Jury, die Angeklagte, Jennifer Lee Witt, des vorsätzlichen Morde s an Matthew Witt unter erschwerenden Umständen für schuldig.« Freeman hielt Jennifer am Arm fest. Sie schien keinen Beistand zu brauchen.
Ich werde nicht zerbrechen. Ich werde nicht zulassen, daß sie mich zerbrechen.
Sie schlagen auf alle nur denkbaren Arten auf dich ein, Tag für Tag, und es befriedigt sie zu sehen, wie du auseinanderfällst. Dann brichst du zusammen. Du flehst sie an, dir noch eine Chance zu geben, du versprichst, es beim nächsten Mal besser zu machen, alles, was sie wollen. Du wirst dich ändern und dich anders benehmen und nicht einmal mehr du selbst sein, wenn sie nur endlich aufhören wollten, dir weh zu tun.
Was jetzt ununterbrochen geschieht. Besonders seit der Sache mit Matt.
Aber ich werde es nicht mehr zulassen. Weinen hilft nicht. Es hat bei Larry, bei Ned, sogar bei Ken nicht geholfen, nicht einmal bei diesen Anwälten. Sie denken sowieso, daß es nur Theater ist, wenn ich zeige, was ich fühle. Sie wissen es nicht, und selbst wenn sie es wüßten, wäre es ihnen egal.
Warum will ich die Leute überzeugen? Wovon? Davon, daß ich kein Monster bin? Warum sollte ich mir die Mühe ma chen? Selbstverständlich haben sie mich schuldig gesprochen. Das haben sie ja immer getan ...
In gewissem Sinne bin ich schuldig. Ich trage die Schuld daran, daß ich hier gelandet bin, daß ich so geworden bin, wie ich bin - leer, verbraucht. Du läßt sie lange genug auf dich einschlagen, und die Person, die du wirklich bist, die geht weg. Versteckt sich.
Nun, diese Befriedigung werde ich ihnen nicht mehr geben. Das ist immerhin schon etwas. Ein Anfang vielleicht...
»Ich habe ehrlich nicht gedacht, daß man sie schuldig sprechen würde.« Freemans Haare wehten im Wind des späten Nachmittags in alle Richtungen. Der Himmel lag wie ein dickes graues Plumeau auf den Stufen vor dem Justizpalast.
Hardy hatte den Arm um seine Frau gelegt, der übel war die sich die Hand auf den Bauch preßte. Sie hatte im Gerichtssaal gewartet, bis alle Leute fortgegangen waren, bis Hardy wieder herausgekommen war, der sich mit Freeman und Jennifer in das private Besprechungszimmer, ihre sogenannte Suite, zurückgezogen hatte. Wo Jennifer über nichts hatte sprechen wollen.
Wenigstens nicht mit Freeman.
Mit einem wütenden Lächeln im Gesicht hatte sie Freeman angefaucht, er könne froh sein, daß er sie gezwungen hätte, das Honorar vorab zu bezahlen. Wenn sie gewußt hätte, daß er verlieren würde ... hieß es nicht, daß er der Beste sei?
Er erwiderte, daß noch nicht alles verloren sei, daß er ihre Reaktion natürlich verstehen könne. Er würde alles tun, um in Berufung zu gehen. Es gab gute Gründe ...
Hardy hatte eine Zeitlang zugehört, sich dann entschuldigt - er würde später mit Jennifer sprechen, ohne Freeman - und war zu Frannie hinausgegangen. Sie wollte nach Hause.
Doch Freeman fing sie auf den Stufen ab, er konnte die Sache noch nicht auf sich beruhen lassen. Er kämpfte noch immer weiter. Er würde in die Berufung gehen. »Es ging zuletzt nur um die drei Minuten ...«
Hardy hatte das Gefühl, er müsse etwas sagen. »Das war mein Fehler. Ich hatte geglaubt, das sei eine einzigartige Geschichte.«
Freeman boxte ihn gegen den Arm. »Das ist totaler Blöd sinn«, sagte er. »Die ganze Sache war meine Show, machen Sie sich nichts vor. Ich meine, ich hätte die Strecke selbst abgehen müssen. Wenn es überhaupt auch nur die geringste Chance gab, daß sie in fünf statt in elf Minuten bei der Bank sein konnte, dann war ich verantwortlich dafür herauszufinden, wie das möglich war. In dem Korb waren einfach zuviel Eier.« Er zog sich die Jacke enger um den Körper. »Wie auch immer, ich kann wahrscheinlich einen neuen Prozeß durchkriegen. Villars hätte den hier
Weitere Kostenlose Bücher