Das Urteil
verkündete - Dienstag um neun Uhr dreißig. Hardy hatte bereits seinen routinemäßigen Antrag auf Aussetzung des Urteils vorbereitet, der dann fällig wurde, und glaubte, daß er trotz alledem zumindest doch noch die Chance hatte, das Urteil in lebenslängliche Haft abzumildern. Wenn er nur irgend etwas finden konnte, das Villars dazu bewegen würde, etwas, das sie für zulässig befände.
Nach der Urteilsverkündung hatte er die halbe Nacht damit verbracht, im Gespräch mit Jennifer alle Möglichkeiten durchzugehen. Seinen letzten Trumpf hielt er vorerst zurück - eigenmächtig hatte er beschlossen, daß er Villars wenigstens das BWS-Motiv darlegen würde, wenn es die einzige Möglichkeit sein sollte, das Todesurteil abzumildern. Doch in der Zwischenzeit hatte er Jennifer in die BMG-Situation eingeweiht, und sie hatte ihn dazu ermächtigt, überall nachzuhaken, wo er nachhaken mußte, und alles zu tun, was notwendig war, um einen Beweis heranzuschaffen. Immerhin wollte sie jetzt ihr Leben retten.
Als ersten Schritt hatte er - am Freitag um acht Uhr abends -den Aufsichtsratsvorsitzenden der BMG angerufen. Dr. Cla-rence Stone wohnte in San Francisco und hatte Hardy eine Stunde am Samstag morgen bei sich zu Hause freigehalten, nachdem dieser ihn von der Dringlichkeit seines Anliegens überzeugt hatte. Also mußte Hardy hinfahren, Grippe hin oder her.
Rebecca und Vincent spielten im Kinderzimmer mit Legosteinen. Frannie sagte: »Schau mal, du bist krank. Du hast rund um die Uhr geackert. Du bist im vergangenen Monat nicht viel zu Hause gewesen. Du mußt einfach auf dich aufpassen.«
Er versuchte trotz seines total benebelten Kopfes zu lächeln. »Das ist auch meine Absicht. Das mach ich. Bald. Ver sprochen.«
Vincent fing an zu plärren, und Frannie eilte in den hinteren Teil des Hauses. Hardy stand ganz langsam auf und setzte sich noch langsamer in Bewegung, suchte an den Möbeln nach Halt, damit er nicht umkippte und quälte sich ins Kinderzimmer. Vincent hatte sich den Finger in einer der Federn der Kinderkarre geklemmt, und Rebecca hatte rein aus Mitgefühl ihrerseits zu schreien begonnen. Hardy drehte den Kopf von ihr weg, hob sie hoch und wiegte sie in seinen Armen.
In einer Minute trotteten sie wieder nach vorn in die Küche, hielten die Kinder in den Armen. Frannie trug Vincent und holte einen Eiswürfel aus dem Gefrierschrank, um ihn auf den geklemmten Finger zu legen. »Kannst du denn nicht wie jeder andere auch einfach Berufung einlegen?«
»Wen rufen?« fragte Rebecca. »Oma rufen?« Vincent hielt über Frannies Schulter nach Oma Ausschau und wiederholte das Wort. Beide fingen zu rufen an: »Oma! Oma!« Der Singsang ging weiter, wurde lauter. Seine Kinder waren zwei Komiker. Es war großartig, daß sie sich liebten und den gleichen Sinn für Humor hatten. Dieses Spiel mit Oma war lustig lustig lustig, eine echte Zirkusnummer zum Totlachen.
Hardy hatte das Gefühl, sein Kopf würde jeden Moment abheben, ohne daß der Rest von ihm mitkäme. Natürlich wollten die Kinder jetzt Oma besuchen, und natürlich war das ein Problem.
»Wenn du dich gut genug fühlst, um rauszugehen, warum fährst du dann nicht mit den Kindern los und besuchst Oma?« Er wußte, daß Frannies Gefühle in gewissem Maße gerechtfertigt waren, aber trotzdem war er in diesem Moment nicht gerade begeistert von ihr. »Nimm beide Kinder mit«, fuhr sie fort. »Die Mammi braucht eine Pause.«
Clarence Stone wohnte in einer stattlichen Villa im Seacliff, geographisch gesehen nicht einmal eine Meile von Hardys Haus entfernt und psychologisch betrachtet in einer anderen Galaxis. Der kurze Fußweg vom nächsten Punkt der in Kreisform angelegten Zufahrt bis zur Eingangstür haute Hardy glatt um. Er brauchte fast eine Minute, bis er wieder bei Atem war und an der Tür klingelte.
Ein leibhaftiger Butler machte ihm die Tür auf, und gemeinsam durchquerten sie eine lange Eingangshalle, wobei das Geräusch ihrer Schritte von einem dicken Perserteppich verschluckt wurde. Der Butler geleitete ihn in ein Mittelding aus Arbeitszimmer und Bibliothek, wo ein weißhaariger Mann mit kurzem Schnurrbart an einem Schreibtisch saß, der ebenso gewaltige Ausmaße hatte wie der in Freemans Büro. Der Mann trug einen braunen Morgenrock aus Seide und schrieb mit einem Füllfederhalter. Als Hardy angekündigt wurde, hörte er auf zu schreiben, legte den Füller weg und erhob sich - unter dem Morgenrock trug er schwarze Hosen -, kam um den Schreibtisch herum
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