Das verborgene Kind
er sie schließlich zu seiner Familie eingeladen hatte. Trotzdem war sie davon ausgegangen, dass alles anders sein würde, sobald sie einmal hier war.
Annabel stand auf und schlenderte zum Fenster. Die Aussicht war ziemlich beeindruckend, falls man auf hohe, kahle Hügel, kleine quadratische Felder und solche Sachen stand, aber die Landschaft war nicht wirklich ihr Ding. Trotzdem war sie bereit, sie lieben zu lernen, sollte Matt ihr eine Chance geben. Aber genau das war das Problem. Er benahm sich immer noch, als seien sie nur Freunde und nichts weiter. Dabei hatte sie gehofft, dass aus der Freundschaft eine intimere Beziehung erwachsen würde, sobald sie hier war, in seinem Zuhause. Sie war aus dem Zug gestiegen – und sie hatte gewusst, dass sie wirklich gut aussah –, und er hatte da gestanden, sehr sexy in der dunkelgrauen Jeans und dem Pullover mit Reißverschlusskragen über einem Rugbyhemd. Aber er hatte sie nur sehr kühl und zurückhaltend auf die Wange geküsst. Nicht einmal im Wagen hatte sie es geschafft, eine intime Atmosphäre zu erzeugen. Sie hatte ihn mit allen Mitteln zu umgarnen versucht und fühlte sich nun ein wenig töricht. Es ärgerte sie, dass Matt einfach nicht mitspielte, und sie wusste, dass in London all ihre Freundinnen mit angehaltenem Atem darauf warteten, wie sie vorankommen würde. Sie konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen bei der Erinnerung an deren Reaktion, nachdem sie ihnen erzählt hatte, dass Matt sie ins Exmoor eingeladen habe.
»Du willst uns wohl auf den Arm nehmen«, hatten sie gemeint. »Matt Llewellyn ? Wie hast du das denn fertiggebracht?«
Natürlich kannte jedermann seinen Ruf, dem zufolge er auf seine Privatsphäre bedacht war. Er war ein einsamer Wolf und so weiter. Ebenso wusste jeder, dass sein Vater, ein bekannter Journalist, getötet worden war, während er aus dem Afghanistankrieg berichtete. Aber trotz des ganzen Medienrummels und des großen Erfolgs, den das Buch und dessen Verfilmung Matt eingebracht hatten, schaffte er es immer noch, den Kritikern und Journalisten seine Privatsphäre vorzuenthalten. Daher war es ein echter Triumph gewesen, dass es ihr gelungen war, sich ein paarmal mit ihm zu verabreden, meist nach einer Buchvorstellung oder bei einem Literaturfestival.
Unzufrieden runzelte Annabel die Stirn. Um ehrlich zu sein, hatte es auch davon nicht viel zu berichten gegeben. Matt besaß sehr gute Umgangsformen und war amüsant; aber er war bei der Freundschaft geblieben, sogar nachdem sie klargemacht hatte, dass sie es gern sähe, wenn viel mehr daraus würde. Doch sie war überzeugt davon, dass sie ihn schließlich durch sanften Druck so weit bringen würde. Sie spürte, dass er sich in Gesellschaft von Frauen nicht besonders wohlfühlte, und war sich sicher, dass sie ihn für sich gewinnen könnte, indem sie einfach nur bei ihm war. Er würde sich an sie gewöhnen und allmählich von ihr abhängig werden.
Eigentlich zog sie Männer wie Nick vor: charmant, immer zu einem Flirt aufgelegt, leicht zu beeindrucken. Aber Nick war kein internationaler Bestsellerautor, der mit seinem ersten Buch einen Haufen Geld verdient hatte. Außerdem war er schon verheiratet. Während des Essens hatte sie herausgefunden, dass er zwei Kinder und eine Frau in London hatte. Es fiel ihr ein wenig schwer, genau zu beurteilen, wer hier wer war. Milo, der alte Brigadier, war Nicks Vater und Lottie seine Tante. So weit, so gut, aber ihre Beziehung zu Matt war ein wenig verworren, und sie hatte nicht zu neugierig sein wollen, da Matt ihr nur wenige vage Auskünfte gegeben hatte. Und dann war da noch die alte Schachtel, die sie mit dem verdammten Köter vorgeführt hatte. Gott, wie sie diese großen, dürren Frauen hasste, die wie Windhunde auf dem Altenteil aussahen! Wer zur Hölle war sie überhaupt? Seine Mutter jedenfalls nicht, so viel war klar.
Sie wusste, dass Matts Mutter vor Kurzem gestorben war. Obwohl Annabel einige taktvolle mitfühlende Bemerkungen gemacht hatte, hatte er sich partout nicht verleiten lassen, von ihr zu sprechen. Allgemein bekannt war, dass seine Mutter schon lange invalide gewesen war. Als sein Buch an die Spitze der Bestsellerlisten kletterte, lebte sie bereits seit Ewigkeiten in einem Pflegeheim. Annabel zuckte die Achseln. Wenigstens gab es keine liebende Mutter, mit der sie konkurrieren musste. Allerdings wusste sie, dass da noch eine Schwester war, die eine kleine Herausforderung darstellen könnte. Nach allem, was sie sich
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